Seminar Baugeschichte
Kirchenbau des 20. Jahrhunderts
Dr. habil. Sabine Brinitzer

 

   

 

Le Corbusier, Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut, Ronchamp (1955)

 

 

Pflichtfach/Wahlpflichtfach Hauptstudium Architektur/Raum- und Umweltplanung/Bautechnik
Do. 12.30 - 15.30, Raum 1/160 Beginn 8. 11. 2007

Eine Kirche zu planen ist eine besondere Aufgabe, denn sie unterscheidet sich von allen anderen Bauaufgaben durch den Entwurf eines Bauwerkes, das über den reinen Zweck der Liturgie hinausgeht, da es zugleich dem christlichen Glauben ikonographisch als Symbol zu dienen hat und ein spirituelles Verhältnis zwischen den Menschen und Gott ermöglichen soll. Beim Kirchenbau handelt es sich deshalb um ein Gotteshaus, dessen Architektur und Raumfiguration sich jeweils aus den Ideen, Glaubensansprüchen, dem technischen Stand und Qualitätsbewußtsein seiner Zeit sowie der konkreten Umgebung konstituiert. Die Komplexität und Problematik dieser Aufgabe stellte sich jedoch im 20. Jahrhundert, das zahlreiche kulturelle und politische Veränderungen mit sich brachte, vollkommen neu und führte zu architektonischen Lösungen, die von einem bis dahin im Sakralbau ungekannt aufeinanderfolgenden Konstruktions- und Formenwechsel gekennzeichnet sind. Die transzendentale Vision der Gottesbegegnung, der religiöse Kult sowie die Dauerhaftigkeit des christlichen Glaubens wurden durch individuelle Ausdrucksmöglichkeiten des Bauens artikuliert.

Nun ist es gerade der christliche Sakralbau der Moderne und der Nachkriegsmoderne, der durch die zurückgehende Zahl der Kirchenbesucher immer mehr zur Disposition steht. Auch wegen seiner puristischen Architektur, seiner abstrakten formalen Geste sowie seiner asketischen räumlichen Ausstattung findet er oftmals Ablehnung, wird zunehmend neuen Nutzungen zugeführt oder sogar abgetragen. Das Seminar soll deshalb den „Kirchenbau des 20. Jahrhunderts“ besonders in den Blickpunkt stellen, um das Bewußtsein dafür zu schärfen, was zu verlorengehen droht – stellen doch die meisten Kirchenbauten der Moderne Kulturdenkmäler höchsten Ranges dar. Deshalb soll zunächst analysiert und reflektiert werden, welche konstruktiven, gesellschaftlichen und zeitlichen Bedingungen notwendig waren, um eine Loslösung von den historischen Formen herbeizuführen. Denn gerade beim Kirchenbau als jahrhundertealtem Ort des Gottesdienstes war es schwieriger, traditionelle Gestaltungsweisen aufzugeben, um neue Materialanwendungen, Architektur- und Raumkonzepte in die Realität zu übertragen. Auch die Position der Kirche im kontextuellen Stadtgefüge definierte sich durch die zunehmende Höhe der Profanbauten neu und reklamierte für den christlichen Sakralbau eine zeitgemäße architektonische Polarisation. Über den Expressionismus und die neue Sachlichkeit gelang es schließlich, gerade nach dem Zweiten Weltkrieg, im Kirchenbau ungeahnt freie Kompositionen mit variablen Nutzungen zu erreichen. Denn die liturgische Bewegung, die Lebensreform und einzelne Persönlichkeiten aus dem Kreis der Theologen wie Romano Guardini oder Johannes van Acken, aber vor allem Architekten wie Rudolf Schwarz, Otto Bartning oder Dominikus und Gottfried Böhm in Deutschland sowie Auguste Perret, Oscar Niemeyer und Le Corbusier im Ausland – um nur einige zu nennen – trugen wesentlich dazu bei, die Kirchenarchitektur zu erneuern. Deshalb soll auch die Analyse herausragender Kirchenbakonzepte des 20. Jahrhunderts zu einem erweiterten Verständnis des christlichen Sakralbaues der Moderne und unter Einbeziehung von Projekten der Gegenwart zu neuen Erkenntnissen seiner räumlichen und architektonischen Qualität führen.

     

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