HÄRING - TEXTE


Kunst- und Strukturprobleme des Bauens.


Der englische Architekt Unwin begann vor kurzem ein Gespräch über die neue Baukunst mit den Worten: "Die Architektur ist eine expressive Kunst." Die deutschen Architekten, die ihm antworteten, entgegneten etwa folgendes: "Die Architektur ist natürlich eine expressive Kunst, aber was uns heute viel wichtiger erscheint als die expressive Seite ihres Wesens, das sind die struktiven Probleme, auf denen sie aufbaut. Nicht die expressiven Probleme, sondern die struktiven haben die Baukunst in Bewegung gebracht, was nicht heißt, daß die ersteren nicht auch wichtig sind. Das Wesentliche des neuen Bauens und das Andere gegenüber der historischen Architektur liegt jedoch in der Erkenntnis von der Bedeutung des Struktiven und in der Erkenntnis von der Veränderung der struktiven Idee in unserem Zeitalter."
Die Begriffe, die sich in diesem Gespräch gegenüberstehen: Struktur und expressive Kunst, bedürfen einer weiteren Erläuterung. Es scheint mir wichtig und lehrreich, diese beiden Begriffe in bezug auf die Architektur und auf das Bauen zu untersuchen und auseinanderzuhalten. In keiner Geschichte der Baukunst habe ich je einen vernünftigen Grund dafür finden können, warum z.B. die Ägypter ausgerechnet die geometrische Figur einer Pyramide in riesenhaften Abmessungen in den Wüstensand setzten, warum die Griechen von dieser Idee abgingen und ihrerseits auf einem Rechteck die Grundrisse ihrer Tempelbauten entwickelten. Eine Erklärung für diese Tatsachen durch die Kunst kann nicht gegeben werden. Ein Hinweis auf primitivere Formen, die den Pyramiden oder den griechischen Tempeln vorausgingen, erklärt wenig. Ein anderer Hinweis, daß diese Formen von anderen Völkern übernommen und nur von den Ägyptern oder den Griechen weiter entwickelt worden seien, ist ebenfalls noch keine Erklärung dafür, weshalb gerade diese Form zur Entwicklung ausgewählt wurde und nicht eine andere. Die Gründe müssen also tiefer liegen. Der Wandel in den Kunstformen muß einem Wandel in tieferliegenden Vorgängen entsprechen, oder er muß die Folge solcher Veränderungen sein. Was können diese tieferliegenden Vorgänge sein, die diesen Wandel in der Gestalt der Bauwerke herbeiführen? Bauwerke haben nicht nur eine Seite der Kunst, sie haben auch einen struktiven Gehalt, sie haben eine struktive Basis. Und sobald wir uns die Mühe machen, die Entwicklungsgeschichte der Architektur nicht von der künstlerischen oder expressiven Seite aus zu betrachten, sondern von der Seite ihrer Strukturen, entdecken wir, daß die Geschichte der Architektur in ihrem Ablauf von einer erstaunlichen Natürlichkeit ist.
Machen wir uns zunächst die Bedeutung des Begriffes Struktur gegenwärtig. Das Prinzip, das eine Ordnung im Raume und in der Zeit bestimmt, ist ein struktives Prinzip. Da es eine Ordnung bestimmt, ist die Beurteilung dieses Prinzips nur möglich, wenn wir den Sinn, das Ziel dieser Ordnungsetzung kennen. An Ordnungsprinzipien lassen sich nun zwei Gruppen unterscheiden, deren Verschiedenheit grundsätzlich und wesentlich ist, eine Gruppe organhafter Strukturen und eine Gruppe geometrischer Strukturen.
Den Strukturen der organischen Natur unterstellen wir dieses Ziel: Lebenserfüllung, Ordnung im Raume und in der Zeit zur Lebensentfaltung des Ganzen. Alle Gestalt in der Natur ist Organ der Lebenserfüllung. Die Art der Dinge im Raume ist bestimmt durch die Aufgabe, die diese Dinge zu erfüllen haben, durch die Funktion, die sie für das einzelne Organ und durch dieses für das ganze Individuum, dem sie angehören, zu leisten haben. Auch der Mensch schafft Formen als Organ im Sinne der Natur, wenn er Geräte, Werkzeuge u.ä. schafft. Das Aufbauprinzip dieser Dinge ist dasselbe wie das der Natur. Das struktive Prinzip ist organhaft, das Ziel ist bei Gerät, Werkzeug, Maschine usw. nicht ein Ausdruck, sondern eine Leistungserfüllung, so wie auch in der Natur die Organe nicht ihres Aussehens wegen da sind, sondern lediglich ihrer Funktionen wegen. Obwohl diese Dinge auch einen Ausdruck haben, so haben sie doch nichts mit Kunst zu tun, denn sie sind nicht um dieses Ausdrucks willen geschaffen worden.
Vielleicht wenden Sie ein, daß dieses zwar für die organische Natur zutrifft, daß es aber nicht in allen Fällen für die Geräte zutrifft, sondern daß Geräte zum Teil ihre Formen auch um dieses Ausdrucks willen erhielten. Dieser Einwand ist zutreffend: es gibt Geräte, ja die Formen der meisten Geräte sind Kompromisse aus reinen Formen der Leistungserfüllung und Formen um eines Ausdrucks willen. Sie sind sowohl Organe als auch Kunstwerke, sie genügen zwei Absichten zugleich, beiden allerdings unvollständig; denn sie sind weder reine Geräte noch reine Kunstwerke, sie sind unreine Geschöpfe. Man bezeichnet sie im allgemeinen als Kunstgewerbe. Aber diese Gruppe von Gegenständen kommt für unsere Untersuchung nicht in Betracht. Ihr Einwand hat jedoch Bedeutung hinsichtlich einer anderen Gruppe, die man den unreinen Gegenständen gegenüber als reine Gegenstände bezeichnen kann, Werke vollkommenster organhafter Form, Werke höchster Leistungserfüllung, die allerdings, obwohl nicht um eines Ausdrucks willen geschaffen, gleichwohl einen Ausdruck höchster Schönheit erreichen können. Ich meine eine bestimmte Gruppe von Geräten, Werkzeugen, Waffen, Maschinen, Schiffskörpern, Flugzeugen usw., auch manche Brücken- und Hallenbauten. Aber an diesen Gegenständen interessiert uns im Augenblick nur die Tatsache, daß ihre Formen aus den Ansprüchen an eine Leistungserfüllung entstehen, daß sie also in das Gebiet der organhaften Strukturgebilde gehören, und an ihnen wollen wir zunächst nur unsere Vorstellung von dem Begriffe der organhaften Struktur festigen. Welcher Art die Schönheit ist, die sie uns darbieten, werden wir später noch zu betrachten haben.
Ein geometrischer Strukturbegriff hingegen fordert ebenfalls eine Ordnung im Raume und in der Zeit, jedoch nicht mit dem Ziele einer Lebenserfüllung wie die organhafte Struktur, sondern mit dem Ziele einer Ordnungsetzung eben nach geometrischen Prinzipien.
Als der Mensch die Geometrie entdeckte, den geometrischen Begriff des Punktes, der Geraden, des Dreiecks, des Quadrates, des Rechtecks, des Kreises und ihrer entsprechenden Körper im Raume, fand er hier zugleich eine nicht in der Natur liegende struktive Idee, eine struktive Idee nicht organhafter, sondern rein geistiger Art. (Zwar kennt auch die Natur geometrische Strukturen, aber in der Natur sind auch die geometrischen Strukturen Formen der Lebenserfüllung und nicht um einer geistigen Idee der Geometrie willen da.)
Die Entdeckung der Geometrie leitete eine neue Entfaltung des menschlichen Geistes ein. Sie führte zu jenen geistigen Disziplinen, Denk- und Arbeitsmethoden, die die Kulturen des klassischen Altertums und des Abendlandes und die großen Kulturen der Inkas und Mayas in Mittelamerika beherrschen. Welch ungeheure Revolution in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes durch Begriffe wie abstrakt, absolut, Raum, Zahl, Zeit usw., die alle aus der Geometrie stammen, eingeleitet wurde, vermögen wir uns heute sicher nicht mehr vorzustellen. Für uns heutige wird die Geometrie in der Schule als ein Hilfsmittel des technischen Arbeitens erledigt, ihr philosophischer Gehalt wird nirgends mehr berührt. Ihr philosophischer Gehalt ist jedoch außerordentlich. Was z.B. die Griechen an Schriften hinterlassen haben, beschäftigt sich zu neun Zehntel mit Geometrie. In der Erforschung der geometrischen und mathematischen Probleme entdecken sie ihre Welt und erwerben sie die Fähigkeiten, sie einzurichten und auszubauen. So verhalf die Geometrie einigen Völkerschaften des Altertums zur gesteigerten Entfaltung ihrer geistigen Anlagen durch den Ausbau ihres Geisteslebens, zu der Fähigkeit planhaften Handelns, zur Organisation politischer Gesellschaften, zur Errichtung großer Macht- und Herrschaftsssysteme. Und schließlich wird in den Monumenten, die die Völker zur Verherrlichung ihrer großen struktiven Prinzipien errichten, das geschaffen, was wir Architektur nennen. Denn durch die Entdeckung der Geometrie entstand u.a. auch die Architektur. Sie ist ohne Geometrie nicht denkbar. Sie ist eine Demonstration des kosmologischen Gehaltes der geometrischen Grundfiguren. Als Demonstration ist sie expressiver Natur, aber der Gegenstand der Demonstration ist die Ideologie eines Strukturbegriffes. Daraus ist ohne weiteres klar, daß wir die Architektur in ihren Veränderungen nur begreifen können von der Seite der Struktur aus, nicht aber von der Seite der Demonstration dieser Strukturen.
Was in der Geometrie gefunden wurde, das war u.a. ein Gegenpol des Lebendigen und Bewegten, das war das Absolute, Unvergängliche, das war die Abstraktion. Dies ist am vollkommensten im Würfel enthalten. Man sieht in ihm mit Recht Ursprung und Idee der Architektur. Selbstverständlich, daß die große Zeit der geometrischen Kulturen sich nie vom Würfel abdrängen ließ. Erst in der Verfallzeit der Geometrie wurde auch noch der struktive Gehalt von Rechteck und Kreis gehoben. Die großen geometrischen Kulturen beschränken sich auf Gerade, Dreieck und Quadrat, auf Kubus und Pyramide im Raum. Es ist der Widerstand gegen den Gehalt an Bewegtem, der in den späteren Figuren, im Rechteck und im Kreis steckt, der sie so handeln heißt.
Die einzelnen Strukturbegriffe sind als kosmologische Begriffe mit sittlichen Forderungen belastet, unduldsam gegen andere und fordern Ausschließlichkeit. Quadrat, Rechteck und Kreis schließen sich als kosmologische Begriffe gegenseitig aus. Das Quadrat fordert Unbewegtheit, der Kreis ist sein Gegensatz, er ist voll Bewegung, expansiv und zentralistisch zugleich; er hat einen besonders bevorzugten Punkt, in dem sich die ganze Energie dieser Figur sammelt, Tendenzen, die dem Quadrat entgegengesetzt sind. Nur die Kombination von Dreieck und Quadrat ergab eine struktiv mögliche, ja sogar klare Idee als Pyramide. In ihr stellt sich auch z.B. der politische Aufbau der Pyramidenkulturen in seltener Reinheit dar, und obwohl auch die Pyramide einen besonders bevorzugten Punkt hat wie die Kugel, so ist doch in der Situation dieser beiden Punkte ein entscheidender Unterschied, und das ist der, daß die Spitze der Pyramide außerhalb der Masse, sie bekrönend, ihren Platz hat, während der Mittelpunkt der Kugel vollkommen eingeschlossen in seinem Gebiet existiert. Die struktiven Konflikte, welche in den Figuren beschlossen liegen, wirken sich in dem Schicksal der Völker aus. Es scheint unvermeidlich, daß das Schicksal der einzelnen Strukturen in der Reihenfolge abrollt, in der wir die geometrischen Grundfiguren aufzureihen gewohnt sind, und daß die Strukturen die kulturelle Kraft der Völker auch verbrauchen, von denen sie selbst ausgebeutet werden.
Der Weg, den die Strukturbegriffe wandern, ist klar erkennbar. Er führte für Jahrtausende, wahrscheinlich, durch die Geometrie, er kann nunmehr nur noch in die organhafte Struktur führen. Frobenius betrachtet die Kulturen als Organismen; wenn wir dieses Bild aufgreifen, so liegt es nahe zu sagen, daß es in dem Reich der Kulturen auch Kristallbildungen gegeben hat, die wir in der Naturgeschichte vor die organhafte Natur zu stellen uns gewöhnt haben.
Wenn wir also das Schicksal der Geometrie als Lieferant von Strukturen kosmologischer Bedeutung für beendet halten, so verschwindet damit selbstverständlich die Geometrie nicht in der Zeit der organhaften Strukturbegriffe, aber sie hat in ihr keine kosmologische Bedeutung mehr, sie liefert lediglich sekundäre Ordnungsbegriffe und Methoden zur Erforschung und Eroberung der Natur selbst. Bei der Konstruktion eines Flugzeuges leistet die Geometrie nur noch Handlangerdienste. Die Form des Flugzeuges ist erfunden worden in Beobachtung der Natur, sie ist Form einer Leistungserfüllung, also organhaft und ungeometrisch. Es gibt Menschen, die die Maschine als eine Leistung der Geometrie oder der Mathematik hinstellen, die die Maschine als die Krönung der geometrischen Kultur betrachten. Diesen Anspruch halte ich für vollkommen falsch. Die Maschine ist ein Geschöpf organhafter Natur, ihr Sinn ist Leistung, ihr Element ist Bewegung, Kraft und Spannung. Sie nähert sich immer mehr der Natur, der sie sich in vielen Teilen schon vollkommen angleicht und der sie vielleicht eines Tages nur noch darin nachstehen wird, daß sie sich nicht selbst erneuern kann wie die Natur. Aber nicht nur die Maschine gehört der organhaften Struktur an, auch alle anderen technischen Konstruktionen, von den Werkzeugen bis zu den Ingenieurkonstruktionen. Zwar spielt hier die Mathematik gewiß noch eine Rolle, aber die Idee dieser Bauwerke kommt nicht aus der Mathematik, sondern aus der Leistung der Materialien und ihrem Zusammenbau, in dem sich mehr und mehr die Konstruktionsformen der Natur einfinden. Die Technik erforscht die Leistung der Baustoffe; ihr Fortschritt ist darauf aufgebaut, daß sie die Leistungen dieser Baustoffe immer genauer und eingehender untersucht und daß sie auch die Konstruktionsformen der organhaften Natur immer weiteren Beobachtungen unterwirft. Die Technik ist hinter der Natur her und müht sich ab, ihr ihre Geheimnisse abzulauschen. Die Mathematik ist nur mehr Hilfsmittel und Kontrollinstrument, sie ist an der Gestalt der Werke nicht schöpferisch beteiligt.
Während die Geometrie den Begriff der Architektur entfaltet und in ihr die ganze Größe ihres abstrakten Geistes demonstriert, während sie die Idee des Zeitlosen, die Idee des Raumes, die Idee des Unbewegten verherrlicht, lehnt sie es ab, muß sie es ablehnen, zum Bau ihrer Werke Baustoffe zu verwenden oder Konstruktionsformen zuzulassen, die das Element der Bewegung enthalten, das der Idee der Starrheit, der Idee des Absoluten, die sie propagiert, entgegensteht. Sie kommt zu dem Bau aus härtesten und dauerhaftesten Steinen, sie lagert den Stein Schicht auf Schicht, die obere Last auf der unteren ruhend. Allen Spannungen aus dem Wege gehend, duldet sie in ihren kosmologischen Bauten keine Gewölbe, obwohl sie das Gewölbe kennt, das sie bei technischen Anlagen verwendet. Die Geometrie zwingt die Technik, sich auf die Statik, auf das Ruhende und Starre zu begrenzen, was eine bewußte Begrenzung ist, denn die phantastischen Leistungen der Geometrie in jenen Kulturen, die z.B. in der Astronomie zutage treten, hätten die Geister sehr wohl in die Lage gesetzt, auch den Elementen des Dynamischen und den Problemen organhafter Bauformen nachzugehen. Aber sie schaltet z.B. das Holz und die Holzkonstruktion mehr und mehr aus. (Die organhaften Kulturen Asiens pflegen es, auch die Juden holten Zedern aus dem Libanon für ihre Tempel; darüber später noch einige Worte.) Sie ignorieren die Möglichkeit von Flechtwerkkonstruktionen, die schon primitive Völker kennen, und sie finden zu Gewölbekonstruktionen in Stein erst in der Verfallszeit, in der Auflösungszeit der eigentlichen großen kosmologischen Bedeutung der geometrischen Figur und damit auch der reinen Idee der Architektur in den Bauten der Römer und Byzantiner. Demgegenüber steht die heutige Technik ganz den elastischen Konstruktionen zugewandt. Sie betrachtet den Bau als lebenden Körper, sie bevorzugt die Materialien größter Spannungsleistungen, sie wendet sich vom Stein ab Holz und Stahl zu, sie interessiert sich für die gießbaren Massen und sucht Baustoffe dauernder Elastizität. In ihren Konstruktionen ist sie auf dem Wege, Bauformen der organhaften Natur zu verwenden, sie ist vom Massivbau zum Skelettbau hinübergewandert, also von der Kristallstruktur zur Wirbeltierstruktur fortgeschritten, im ganzen wie auch im einzelnen.
Hier in der Welt der Technik und der Konstruktion, die wir üblicherweise nur als eine Welt der Materie betrachten, zeigt sich wiederum die Wirkung desselben Ablaufes der Strukturen, die wir also auch in den Kulturen bereits erkannten. Die Rolle der Geometrie ist auch hier zu Ende, der Uebergang zu organhaften Strukturbegriffen ist vollzogen. Der Idee des Abstrakten, des statisch in sich Ruhenden, ist die Idee des Lebendigen, also Bewegten, die Idee des Werdens gefolgt.
Wie sehr diese Veränderung den Urboden der Kultur betrifft, wie sehr sie alle Disziplinen des Geistes erfaßt, wie sehr sie die Totalität unseres Geisteslebens angeht, dafür noch ein Beispiel. In der Mathematik unternahm Albert Einstein den Angriff auf das Prinzip des Absoluten, um es auch im Bereiche der Wissenschaft zu entthronen. Der Idee des Absoluten im Altertum folgt in der Gegenwart die Idee des Relativen. (Hierbei möchte ich nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß diese Entthronung der Herrschaft des Absoluten von einem Vertreter jenes Volkes geführt wurde, das sich bereits im Altertum zur Zeit der Blüte dieser Strukturen als einzige Macht mit äußerster Heftigkeit gegen diese Herrschaft auflehnte und sich auf dem Boden eines organhaften Strukturbegriffes behauptete. Die Besonderheiten und das Schicksal dieser Struktur inmitten geometrischer Strukturen sind bis in Einzelheiten nachzuweisen. Auch mögen Sie hierin erkennen, welch ungeheuere lebenschaffende Kraft in dem struktiven Begriffe enthalten ist, von dem eine Rasse und eine Kultur genährt wird.)
Wenn wir also die Geschichte der Kulturen auf eine Geschichte der Strukturen zurückführen, so wird dadurch u.a. eines gewiß, daß diese Entwicklung nicht wieder umkehrbar ist. Die Idee, Schöpfungen verbrauchter Strukturbegriffe zum Ausgangspunkt neuer Kultivierung machen zu wollen, ist grotesk. Man handelt gegen den Geist der Natur, wenn man die Form erschöpfter Kulturbegriffe in dem technischen Milieu der Gegenwart wieder zum Leben zu erwecken sucht. Man kann nicht Teile aus einer Welt herausschälen, die über einem bestimmten Strukturbegriff entfaltet wurden. Zur Pyramidenstruktur gehört die Technik der Pyramide, und zur Technik der Gegenwart gehört die organhafte Struktur.
Es wäre falsch anzunehmen, die Prinzipien des neuen Bauens seien ohne Tradition. Das Gegenteil ist der Fall. Die Tradition des neuen Bauens, die Tradition des Bauens auf organhafter Struktur, ist älter als die Architektur. Die struktiven Grundlagen eines organhaften Bauens sind ursprünglich, in der Natur vorhanden, dem Menschen sozusagen zugeboren, während die geometrische Struktur erst erworben wurde und eine hohe geistige Kultur voraussetzt. In den Gebieten der geometrischen Kultur wurde die ursprüngliche Welt der organhaften Struktur zurückgedrängt, jedoch hat sie sich auch in der Zeit der geistigen Herrschaft der geometrischen Struktur überall da behauptet, wo die Ansprüche des Lebens an Leistungen stärker waren als die Ansprüche der Geometrie, also in Geräten, Werkzeugen, Waffen, in technischen Bauten, Schiffen usw. Doch sei nicht verkannt, daß die Geometrie für die Entwicklung der Technik und damit auch der Schöpfung organhafter Struktur große Dienste geleistet hat, indem sie die Mittel an die Hand gab, durch die Mathematik die Methoden des technischen Arbeitens zu entwickeln. Andererseits soll auch nicht übersehen werden, daß die Herrschaft der Geometrie die Entwicklung des technischen Erfindungsgeistes sehr unterdrückte, einen Erfindungsgeist, der sich auf das lebhafteste bereits bei Tieren in ihren Bauten dokumentiert und der bei primitiven Menschen schon zu geistvollen Konstruktionen von Bauwerken, Werkzeugen und Waffen geführt hat. Erst mit dem allmählichen Verfall der kosmologischen Macht der Geometrie beginnt der Siegeszug der Technik, beginnt die Ausbreitung einer Idee der organhaften Strukturbildung in einem durchaus kosmologischen Sinne. Denn hierin liegt das Entscheidende, daß die Idee der organhaften Struktur in kosmologischem Sinne hingenommen wird.
Ich fürchte, Sie werden nicht ohne weiteres bereit sein, für die Gegenwart das Vorhandensein einer Kosmologie zuzugeben. Ich kann aber zur Verdeutlichung der Gedankengänge nicht darauf verzichten, von einer solchen zu sprechen. Es sind Kosmologien, in denen die Völker der Geschichte ihre Vorstellung von der Ordnung des Weltganzen, von der Gruppierung der sichtbaren und unsichtbaren Mächte als Erlebnis- und Erfahrungsinhalt niedergelegt haben. Freilich kennt die Gegenwart bildhafte Darstellungen solcher Kosmologien, wie sie die Vergangenheit schuf, nicht mehr. Aber auch sie hat Vorstellungen von einer Ordnung des Weltganzen und ihrer sichtbaren und unsichtbaren Mächte, die ebenfalls als ein Ergebnis ihrer Erlebnisse und Erfahrungsinhalte entstanden sind. Aus diesem Grund können wir auch heute noch von der Existenz kosmologisch zu deutender Vorstellungen sprechen und die Idee einer weltlichen und geistigen Ordnung annehmen; denn niemand wird bestreiten, daß in allen Vorgängen unser Zeit, wenigstens in den Gebieten bestimmter Völkerschaften und Landschaften Erlebnisse und Erfahrungsinhalte sich geltend machen, die die Behauptung rechtfertigen, daß ein Uebergang zu organhaften Strukturideen in einem durchaus kosmologischen Sinne sich vollzieht und daß unsere Energie darauf konzentriert ist, auch unsere Umwelt diesem Wandel entsprechend umzugestalten. Für uns im Bauen bedeutet dies, daß es keine Architektur mehr geben wird; denn die Architektur setzt einen geometrischen Strukturbegriff als kosmologische Idee voraus: auf dem Boden der organhaften Struktur kann aber nur "gebaut" werden.
Alles, was wir in der Architektur als auch in den Bauwerken der organhaften Struktur eben als die Wirkung eines struktiven Prinzips erkennen, hat nun mit Kunst durchaus nichts zu tun. Alle diese Gestaltungen aus der Struktur heraus sind geworden und erformt nicht um eines Ausdrucks willen, sondern entweder eines geistigen Prinzips oder eines Leistungsanspruches wegen. Aber lediglich da, wo wir Formen schaffen um eines besonderen Ausdrucks willen, können wir von Kunst sprechen. Kunst ist ihrer Natur nach expressiv; daß aber die Figur der Pyramide nicht ihrer expressiven Wirkung wegen erfunden worden sein kann, habe ich versucht, glaubhaft zu machen. Die Pyramide hat so lange nichts mit Kunst zu tun, als sie nicht um einer besonderen Wirkungsabsicht willen in besonderer Weise errichtet wird. Wo aber beginnt der Angriff auf das struktive Gebilde aus Gründen einer Wirkung auf die Sinne? Er beginnt da, wo ein struktives Gebilde so verkörpert wird, daß es eine bestimmte sinnliche Wirkung erzielt.
Das stärkste Wirkungselement, über das die Kunst zur Erreichung einer augenhaften Wirkung verfügt, ist die Maßsetzung. Der struktive Begriff selbst ist unabhängig von der Größe, in der er vorgestellt wird; er ist auch noch in einer Pyramide von 10 cm Höhe vorhanden. Wenn die Aegypter die Pyramide in größtem Maßstabe ausführten, der ihnen technisch erreichbar war und in härtestem Stein, so geschah dies in Rücksicht auf eine Wirkung, in Rücksicht auf einen Ausdruck von Mächtigkeit, Größe und Erhabenheit, der den struktiven Begriffen zugelegt wird. Nicht in der Erfindung der Form steckt die künstlerische Schöpfung, sondern in der Darbietung dieser Form. Die struktiv gesetzte Form wird Objekt einer künstlerischen Darbietung.
Das will heißen, daß die Kunst nicht aus sich heraus leben kann, sondern daß sie eine Aufgabe hat, daß sie sozusagen einen Auftrag hat. Sie kann keine eigenen Wege gehen, sie ist an den Inhalt der struktiven Form gebunden und ihm verpflichtet. Da, wo sie diesen Boden verläßt, ihren Auftrag ignoriert, sinkt sie zum dekorativen Spiel.
In der Auswertung und Erforschung des Rechtecks als struktive Figur entwickelte sich die Kultur der Griechen. Die Auswertung des Rechtecks, das ist u.a. dies: die beiden Seiten des Rechtecks haben verschiedene Längen. Wie setzt man die Längen dieser Seiten fest? Dies führt zu einer Untersuchung der Erziehungen der beiden Längen, dies führt zum Begriff der Proportion, führt zum Begriff von Gesetzmäßigkeit und führt zur Entdeckung einer Gesetzhaftigkeit überhaupt. Die Figur des kosmologisch begriffenen Rechtecks, des Quaders im Raume, ist die Grundfigur des griechischen Kultbaues, des griechischen Tempels. Auf die Proportionierung dieses Baues konzentriert sich vor allem die ganze geistige Leistung. Maßbestimmung wird zur Gesetzfindung. Maßbestimmung und Gesetzfindung bleiben auf dem Boden einer Durchforschung der struktiven Prinzipien des Rechtecks, doch vollzieht sich in der griechischen Architektur, wie in keiner anderen, die innere Verschmelzung eines struktiven Problems mit einem künstlerischen Auftrag, denn die Darbietung der struktiven Figur ist nur eine Entfaltung derselben. In der Struktur ist bereits die expressive Kraft der Proportionen enthalten, es ist Sache der Kunst, sie zu erwecken und zu verwenden.
Die Erforschung der Gesetzhaftigkeit, des Abstrakten, die Erforschung der Beziehungen der Dinge untereinander bilden den Inhalt der griechischen Kultur, bilden sozusagen den Auftrag dieser Kultur. Die Griechen haben u.a. eine bestimmte Fassung für die Begriffe der Geometrie geschaffen und sie haben zweifellos als erste zu der Vorstellung eines Raumes an sich gefunden, wobei ich mich auf Einstein berufen kann, der erst vor kurzem darauf hinwies. Auch der Staatsbegriff der Griechen ist undenkbar ohne die in der Erforschung der Strukturprobleme des Rechtecks gefundenen Erkenntnisse. Die Idee der Demokratie ist das Geschöpf der Struktur des Rechtecks, so wie die Idee des Imperiums ein Geschöpf der Kreisstruktur ist. Wie ganz anders liegt demgegenüber der Fall der Ägypter. Weder im Dreieck noch im Quadrat liegt das Problem der Proportionierung. Wenn man dem Kubus gegenüber von einem expressiven Gehalt sprechen kann, so ist es lediglich der der Masse, der Schwere, der Schichtung, der Last.
Ich hatte einleitend gesagt, daß ein Volk sich jeweils in einem Strukturbegriff erschöpfe. Unsere heutige Situation betreffend, könnte sich nun leicht ein Widerspruch erheben lassen, wenn wir annehmen wollten, daß der Strukturauftrag der Völkerschaften der nordischen Landschaft bereits im Laufe des letzten Jahrtausends erfüllt worden sei. Träfe dies zu, so hätte Spengler recht, wenn er den Untergang des Abendlandes in Aussicht stellt, aber man kann auch annehmen, daß dies nicht zutrifft, daß für die nordische Landschaft im letzten Jahrtausend die Entfaltung der organhaften Struktur zwar nicht verhindert, aber doch aufgehalten wurde durch die Invasion der geometrischen Mittelmeerkulturen, die sich über dieses Gebiet erstreckten. Denn es muß gesagt werden, daß die den nordischen Rassen zugehörige Struktur die Wesenszüge des Organhaften schon in frühester Zeit trägt und daß sie in der Entfaltung des technischen Geistes sich ihr Gebiet wieder erobert hat. Die Völker des Mittelmeeres einschließlich der lateinischen Völker, im Verfall der geometrischen Strukturbegriffe lebend, stehen den Aufgaben des neuen Bauens fremd gegenüber. Le Corbusier, an der Grenze zweier geistiger Landschaften, versucht noch einmal die Herrschaft der Geometrie aufzurichten, indem er sie mit der Welt unserer heutigen technischen Mittel konfrontiert, aber dieser Versuch führt nicht hinüber zu organhaftem Bauen, sondern zurück zu ästhetischen Prinzipien. Es verdient unsere Aufmerksamkeit, daß nur die Völker der nordischen Landschaft von der tieferen Umwälzung der Probleme ergriffen erscheinen und daß weiter die jungen slawischen Völker, deren Rassen wir ebenfalls den organhaften Strukturen zugehörig ansehen müssen, sich mit Heftigkeit auf diese Problematik stürzen. Bleibt noch zu sagen, daß wir uns damit stark den Kulturen Asiens nähern, die immer auf dem Boden organhafter Strukturen gestanden haben, die die Geometrie zwar kannten, ihr aber keine kosmologische Bedeutung beilegten, da sie die psychische Kraft immer höher schätzten als die Kraft des Geistes.
Der Wandel in den Strukturbegriffen wirkt sich in der Gegenwart am sichtbarsten in der Umbildung der politischen Struktur der Gesellschaft aus. Die Idee des organhaften Strukturbegriffes fordert, daß die Gesellschaft geordnet sei nach den Prinzipien der Ordnung eines Organs, d.h. daß ihre Individuen betrachtet werden als Zellen und daß die Stellung dieses Individuums im Raume des Ganzen gegeben sei durch die Aufgabe, die es für das Ganze leistet oder zu leisten hat.
Dieses selbe Problem der neuen Ordnungsfindung im ganzen im Sinne einer Leistungserfüllung ist es, das die Probleme des neuen Bauens auf das engste mit den Problemen der Gesellschaft verbindet. Die struktive Organisation eines Bauwerkes ist durchaus identisch ihrem Wesen nach mit der struktiven Organisation einer Gesellschaft.
Dieselben konstitutiven Probleme sind hier wie dort. Wenn man sagt, daß die Bauaufgaben der neuen Gesellschaft die neue Baukunst fördern, so muß man hinzufügen, daß dieses vor allen Dingen in einem durchaus geistigen Sinne zu verstehen ist. Die struktive Erfassung einer Bauaufgabe bedeutet zugleich eine Entscheidung soziologen Charakters. Unsere großen Bauprobleme, die Siedlungsfragen, die Auflösung der Stadt, die Citybildungen enthalten struktive Probleme, die durchaus identisch sind mit den struktiven Problemen der Gesellschaft. Die Idee der organhaften Struktur beseitigt das Starre, Unbewegliche und das Dauernde, sie will die Bewegung als das Lebenschaffende, Lebenzeugende; sie bringt deshalb den Menschen aus den Steinmeeren der Städte heraus wieder in die Natur, um ihn nicht nur geistig zu entwickeln, sondern ihn auch psychisch zu nähren. Vielleicht wird die geometrische Figur noch lange auch in dieser Welt der organhaften Struktur herrschen, denn überall da, wo tote Masse auf engem Raum zusammengebracht wird, wird sich die geometrische Figur als eine Eigenschaft der Materie, als die Struktur der Materie einfinden.
Die Stadtkultur wird das Geometrische nicht überwinden können, es sei denn, daß sie sich selbst in eine Landkultur wieder auflöse. Spengler sagt, die Kulturen gehen an ihren Großstädten zugrunde; wenn die organhafte Struktur die Großstädte wieder auflöst, so hätte sie also eine Aussicht, nicht zugrunde zu gehen. Inzwischen aber wird sich unsere gegenwärtige Stadtkultur noch einige Zeit mit der Geometrie herumzuschlagen haben, wenn auch ihre Rolle eine nachgeordnete sein wird. Gleichwohl liegen hier große Konflikte für die künstlerischen Probleme des neuen Bauens.
Die Unterwerfung unter die struktive Idee, das Organhafte, ist heute ganz allgemein. Da, wo sich noch Widerstände zeigen, handelt es sich um die Reste einer der Geschichte angehörigen Ideologie, aber wir können sagen, daß heute grundsätzlich ein Bauwerk aus seinen Gebrauchsansprüchen heraus entwickelt wird und daß der Baumeister seinen Ehrgeiz darin sieht, diesen Gebrauchsansprüchen auf das vollkommenste zu genügen. In Erfüllung dieser Aufgabe entsteht ein Bauwerk als ein Gebrauchsgegenstand, aber auch als ein Bekenntnis zu einer struktiven Idee. Aber die so entstehende Form wird höheren Ansprüchen noch nicht genügen, denn in dem Augenblick, in dem wir das Bauwerk errichten, geben wir ihm zugleich ein Aussehen, die geistig ermittelte, technisch gebundene Form wird dargeboten. Wir entnehmen aus dieser Darbietung einer Verpflichtung zur künstlerischen Gestaltung, einen Auftrag der struktiven Idee, sie ideologisch darzustellen, sie sinnlich erlebbar zu demonstrieren.
Diese Bindung des künstlerischen Auftrages an eine struktive Idee, an die Verwirklichung dieser Idee im individuellen Einzelfall, stellt diesem Auftrag das Thema.
Freilich läßt nun dieses Thema noch viele Möglichkeiten offen, aber diese Möglichkeiten stehen unter der strengen Kontrolle einer auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Ideologie, der Ideologie einer neuen sittlichen Ordnung. Rückblickend in die Vergangenheit möchte ich glauben, daß in dieser Auffassung von dem Sinne der künstlerischen Arbeit ein grundsätzlicher Unterschied gegenüber der Auffassung der Griechen zum Beispiel nicht besteht. Auch von ihrer künstlerischen Arbeit läßt sich sagen, daß sie zum Inhalt hatte, die Idee einer sittlichen Ordnung zu verkünden; was sich jedoch geändert hat, das ist das struktive Prinzip, das wir heute für die Errichtung einer sittlichen Ordnung zugrunde legen, und das allerdings führt zu großen Veränderungen auch in der Welt des Künstlerischen.

Aus: Zentralblatt der Bauverwaltung, vereinigt mit der Zeitschrift für Bauwesen, 51 Jg. (15. Juli 1931), H. 29, S. 429-432