HÄRING - TEXTE
 

 

Lichtwark.
Gedächtnisrede, gehalten am 15. Februar 1914 bei der Feier des Hamburger Künstlervereins.

Viele von Ihnen waren vor einigen Wochen um einen Toten versammelt, zum letzten Mal in der Nähe eines Leibes, der dem stolzen Geist, der ihn vordem in Ordnung hielt, nicht mehr gehorchen wollte. Wir haben Sie gebeten, noch einmal zusammenzukommen, weil wir in den Augenblicken der ersten Trauer nur verlegene Worte und ausweichende Gedanken hatten, die der Einfachheit unseres Schmerzes nur eine Unruhe bereitet hätten, ohne ihn zu lindern. Nun einige Zeit verstrichen ist und die Gewohnheit anfängt, diesen Tod als ein Festes und Geschehenes anzusehen, finden wir die Ruhe wieder, um dem Verlangen unseres Herzens nachzugeben, das dem Toten ein Denkmal der Verehrung aufrichten will, als einen Übergang zum Leben und eine Verbindung mit der Vergangenheit. Denn noch müssen wir, deren geistige Arbeit und persönliches Geschick mit ihm verbunden war, diesen Teil immer wieder erleben, so oft ein Gegenstand, ein Gedanke oder eine Erinnerung seinen Namen festhält. Und wenn sein Name in unserem Gedächtnis erscheint, so werden alle unsere Gedanken unterbrochen, um für Augenblicke jener jähen Stille Raum zu geben, in der alle Worte verschwinden und aus der wir uns nur langsam wieder herausfinden, um uns um die Tatsache herumzuschleichen, daß der Träger dieses Namens nicht mehr ist; daß der aufgehört hat, über Bildwerke nachzudenken, daß seine Augen aufgehört haben, an den Werken der Kunst die Schönheit eines Lebens zu suchen, das dem seinen die Fülle und die Kraft gab, daß sein Gehirn aufgehört hat, den Quellen und Zusammenhängen dieses Lebens nachzugehen und daß seine Hände aufgehört haben, uns vor seine Bilder zu führen, uns mit seinen Worten und Begriffen, wie mit Gefäßen den Trank zu reichen, der ihn erquickte.

Wenn man das Werk dieses Mannes ansieht, das nun abgeschlossen vor uns liegt, so begreift man kaum, daß es das Werk eines einzelnen Mannes ist, so groß ist die Menge der Gedanken und Anregungen, so unabsehbar ist die weite Wirkung seiner Arbeit. Unzählbare Begriffe unserer jungen künstlerischen Kultur nahmen von ihm ihren Ausgang oder führten zu ihm zurück. Nur eine große Leidenschaft konnte ein solches Werk errichten, nur eine große Leidenschaft konnte die Geduld haben, seine kühnen Gedanken zum Sieg zu führen durch all die Widerwärtigkeiten und stummen Widerstände, die sich lähmend auf die arbeitsamen Arme legen. Hohe Gedanken haben sein Leben geformt, mit entschlossenen Worten hat er seine Ideale verkündet. Wie schwer ist es, dies ein Leben lang zu tun, gegen all Angriffe, den spitzen Neid und die Alltäglichkeit, die seine Ziele, seine Arbeit lächerlich machen wollten. Es ist die größte Anstrengung für ein schamhaftes Herz, die Begeisterung durchzuhalten durch die Anfechtungen der vielen Stunden der Tage, der Wochen und Jahre. Er besaß so viel davon, daß er sie in seinem Ueberfluß mitteilen mußte, daß er den Wert seines Lebens darin sah, daß er sie mitteilte. Und er besaß die große Gabe, sie mitteilen zu können. Daß er seine Begeisterung mitteilen mußte, hat seine Arbeit auf die besonderen Wege gelenkt, die vorher kein Leiter eines Museums gegangen ist: er sammelte seine Bilder, um zu beweisen, daß er recht hatte mit seiner Begeisterung und um die Wege zu weisen, die zu ihr führten. Und er teilte sie mit allen, die um ihn waren, und um sie mit vielen teilen zu können, und für immer, schrieb er seine Bücher, die voll sind von ihr. Er teilte sie vor allem mit den Künstlern, vielleicht, weil diese sie am nötigsten haben. Kein Werk der Kunst ist geworden ohne sie, ohne die alles Können nur Handwerk ist und Handwerk bleibt. Sie wuchs aus seinem hohen Glauben an die Mission der Kunst im Leben des Menschen, im Leben des Volkes, im Leben seines niederelbischen Volkes, aus dem er gewachsen war. Das hat seine Stellung zur Kunst bestimmt, daß er ihr eine Macht im Leben einräumte und sie nicht nur als ein angenehmes Spiel des Geistes ansprach. Er deutete die Kunst aus einem Herzen, das die Tugenden der Menschen stark wissen wollte, stolz und reich, einfach und wahrheitswollend, und er begriff sie durch seinen Charakter. Er wollte nicht, daß man einen Blumenstrauß male, dessen Blumen nicht zusammen gewachsen wären, weil er nicht wollte, daß eine fremde Willkür eine Einheit zerstöre, die eine weise Natur geschaffen hatte. So sehr waren ihm die Gesetze des Bodens, auf dem er lebte, auch die Gesetze seines Lebens, so sehr fühlte er sich dem unterworfen, aus dem er seine Kraft und seine Größe zog, daß sein aufrichtiger Wille nicht dulden konnte, daß etwas von außen her hereingetragen würde, was nicht dazu gehörte. Und so groß war sein Glauben an die Wahrheit dieser Erkenntnis, daß er alles auf sie bezog, in der unbeirrten Zuversicht, daß die Weisheit der Natur auch die Weisheit jenes Lebens wäre, dem er sich vertrauen wollte. Er ist dieser Weisheit der Natur nachgegangen, wo immer er konnte, und fand sie am reinsten wieder in den großen Werken der Kunst. Es war die Zuversicht, die aus seinem Glauben kam, die ihn in die Kirchen führte, um die Meister Francke und Bertram zu entdecken, die ihn zu den vergessenen Bildern Runges und Oldachs, der Genßler und Speckter und der anderen führte, zu all diesen Entdeckungen, aus denen er mit so großem und schönem Stolz jenen Bau der einstigen vergangenen Größe der Kunst seiner niederelbischen Lande wieder aufrichten sollte, jenen Bau, der vorher so unglaubhaft und unwahrscheinlich schien. Wohl war diese Kunst der Alten eine knorrige Kunst und nicht fein und schmeichelnd wie die Kunst der Italiener, aber sie war von starkem Ausdruck und gerade so wie das Volk, dem diese Kunst entstammte. Und von derselben Art war die Kunst der Männer, die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in Hamburg ihren Träumen nachgingen. Diese Männer waren so selbstsicher und der Macht ihrer Heimat vertrauend, daß ein Speckter 6 Wochen in Rom sein konnte, um schließlich zu sagen, Rom sei schön, aber schöner seine Hamburger Fleete. Als er diese Kunst entdeckte, da zeigte er sie vor allem wieder dem Volk mit der Freude, mit der man einem Schätze zeigt, die längst verloren schienen. Und dann zeigte er sie den Gelehrten und gab so den Anstoß zu der großen Bewegung, die dem ganzen deutschen Volk so viele Kostbarkeiten wieder schenken sollte und die der geschmähten deutschen Kunst des 19. Jahrhundert wieder zu einem Ansehen verhalf, aus dem ein neues Selbstvertrauen in diese wirren Zeiten floß. Ein Ansehen, das ihr so Not tat gegenüber dem übermächtigen Glanz des Auslandes. Vor diese großen Schätze führte er alle, die zu ihm kamen, die Laien und die Freunde der Kunst, die Sammler und die Künstler, und alle überraschte er mit ihnen. Seinem Volk zeigte er sie mit jener Gebärde, die sagen wollte: Dort liegt eure Seele und eure Kraft, den Fremden zeigte er sie mit einer Gebärde, mit der er sich gleichsam neben seine Bilder stellte, um ihnen stolz zu sagen: Das sind wir Deutschen, das ist unsere Kunst. Vor allem aber stand er mit seinen jungen Hamburger Künstlern bei diesen Bildern, denn, sagte er einmal, "das ist die edelste Wirkung, die der Besitz bedeutender, alter, dem heimischen Boden entstammender Kunstwerke ausüben kann, daß sie Mut und Selbstvertrauen erwecken und Wunsch und Willen zum Schaffen und Fördern beim Künstler und beim ganzen Volk entzünden". Und darauf kam es an: daß sie Mut und Selbstvertrauen genug hatten, auszuharren bei den großen Zielen, die die Bewegung der neunziger Jahre auch ihnen gesteckt hatte, ihnen, die heute in den Vierzigern stehen und von denen viele in diesem Augenblick unter uns sind. Er stellte sich mitten unter sie, sprang ihnen bei mit seinem Mut, stritt mit ihnen um ihre Ziele, teilte mit ihnen den großen Schatz seines Wissens und eiferte sie an, sich der Kraft ihrer Rasse zu vertrauen. Denn, sagt er ein ander Mal, von Meister Francke, wenn er von ihm als dem größten deutschen Farbendichter aller Zeiten spricht: "Hier zeigt er, was die niederdeutsche Rasse vermag, wenn nicht akademische Einflüsse ihre angeborene Begabung abgetötet haben, und in dieser Eigenschaft vermag er den gegenwärtigen und den künftigen Geschlechtern als Wegweiser zu sich selbst zu dienen." Erst mußten sie den Weg zu sich selbst finden, wollten sie den Grund zu einer Größe legen, die dauerhaft war. Es hieß in vielem ganz von vorn anfangen. Er half und bestärkte sie in allem und machte ihnen Hoffnung auf Erfolg und ebnete ihnen die Wege zu ihm und versagte auch seine Hilfe nicht, als ihre Wege nach Brot gingen. Als die Erfolge kamen, da teilte er mit ihnen auch ihre Freude um diese Erfolge; und während er langsam war mit seinem Urteil und bedächtig, um nicht Unrecht zu tun, kam seine Freude aus einem offenen Herzen und äußerte sich mit einer Dringlichkeit, als wäre sie besorgt, die Zeit möchte ihr etwas rauben. War er unterwegs auf einer seiner vielen Reisen, und gingen seine Gedanken in die Heimat zurück, zu einem seiner Freunde, sei es, daß er ein Bild von ihnen sah, das in der Fremde ausgestellt war, sei es, daß irgend ein anderes Bild ihm neue Anschauungen über ihre Kunst gab, so beeilte er sich, ihnen dies zu schreiben, daß er an ihnen wieder eine Freude erlebt hätte, daß er ihr Bild wieder gesehen hätte, das hier so gut hinge und das sich neben den anderen gut mache, knüpfte allerlei Gedanken und Betrachtungen an dieses Bild, wie der Erfolg doch schließlich die Mühe lohne, und fand immer viele herzliche Worte der Zustimmung und Aufmunterung, die den Menschen von heute so schwer aus der Feder fließen. Wenn man sich erinnert, daß es damals wohl keinen Leiter eines öffentlichen Museums gab, der persönlichen Anteil an der werdenden Kunst nahm, der sich nicht für zu gebildet hielt, mit jungen Künstlern zu debattieren und ihre täglichen Sorgen mit ihnen zu teilen, so versteht man erst die Größe dieses Vorgehens.

Er war der Künstlerschaft ein mutiger Führer im Kampf um die neue Kunst und ein zuverlässiger Freund in all ihren geistigen Nöten und wirtschaftlichen Sorgen. Er führte ihnen auch die Aufmerksamkeit der Sammler und der anderen Freunde der Kunst zu, die sich seiner Kennerschaft anvertrauten, die ihnen empfahl, die Bilder dieser jungen Künstler zu erwerben, um ein Werk zu fördern, zu dem die Hilfe vieler nötig war. Denn auch die Sammler und Freunde der Kunst suchte er seinen Zielen zu gewinnen, damit sie seine Arbeit ergänzten und erweiterten. Und nächst ihnen wandte er sich den Kreisen der Dilettanten zu. Er sah, daß hier eine Begeisterung darauf wartete, auf die richtigen Wege geführt zu werden, und er nahm sich die Mühe, diese Wege zu bereiten und sie darauf zu führen. Einen wertvollen Teil seiner Arbeit widmete er dieser ernsten und mühsamen Aufgabe. Die Macht seiner Persönlichkeit, das Natürliche seines Geistes hat ihre Interessen festgehalten, und indem er ihre Fähigkeiten schulte, ihre Gedanken ordnete und ihre Wünsche deutete, steigerte er ihr Empfindungsvermögen, das ihm die Voraussetzung einer "für das Leben künstlerischen Bildung" war. "Den Wert der künstlerischen Bildung schätzen wir nicht nach dem Maß der historischen Kenntnisse, " schrieb er einmal, "sondern nach der Entwicklung des künstlerischen Anschauungsvermögens, nicht nach dem Umfang des Wissens, sondern nach der Kraft des Urteils. Denn ein Lot Anschauungsvermögen ist für das Leben mehr wert als ein Zentner Wissen." War der Einfluß, den er auf diese Weise über große Kreise gewann, schon ein außerordentlicher, so konnte er doch erst von der Erziehung der kommenden Generationen die weite Wirkung erwarten, die die wirkliche Größe seiner Gedanken verlangte. Als die Lehrerschaft seinen Zielen ein so großes Verständnis entgegenbrachte, arbeitete er mit ihr diese ganze umfangreiche Anlage der Pflege der künstlerischen Bildung aus, die eine so schöne Entwicklung genommen hat. Hier mag sein Herz oft stärker gesprochen haben, als es ihm sonst gestattet war; um diese Arbeit von Anfang an zu tun, wandte er sich an die Kinder. Wie haben ihm die Kinder nahe gestanden, die von der Falschheit noch nichts wußten, in deren Augen er die reine Liebe seines Landes sah. Er gab ihnen Feste, kleine ländliche Feste, mit Blumen, mit Musik und ein wenig Tanz. Und wenn der große Mann inmitten der vielen Kinder stand, die von seiner Größe nichts wußten und ihn nur liebten, weil er gut und voller Liebe zu ihnen war, so war eine leichte Verlegenheit an ihm, als ob er sich der vielen Freude erwehren wolle, die er nicht gewohnt war, und als ob er nicht wüßte, wie er die Liebe unterbringen sollte, die er für diese kindlichen Herzen empfand. Diese Herzen zu gewinnen, mochte ihm ein Glück bedeuten. Wie viel Freude wird ihm daraus gekommen sein, daß er seine Bilder mit ihnen ansehen konnte, daß er ihr Entzücken, ihre Aufmerksamkeit, ihren Jubel im Erkennen erleben durfte.
Wie der Umfang seines Erziehungswerkes anwuchs, so mehrte sich auch das Material, das er zu ihm heranzog. Es war klar, daß er nicht Halt machen konnte bei den Bildern und den Skulpturen, denn dieselben Gesetze, die er an ihnen erkannte, waren auch in den anderen Werken der Kunst, in den Werken der Architektur, in der Kunst des Städtebaus und in der Kunst des Gartenbaus.
Das neue Leben, das in der Malerei anhob, griff auch auf diese Künste über und es wartete auch hier eine große Arbeit auf ihn, die er übernehmen wollte, weil wenige da waren, die sie hätten tun können und er sie für zu wichtig hielt, als daß sie hätte ungetan bleiben können. Mit der Klarheit und Eindringlichkeit, mit der er alle seine Auffassungen vortrug, hat er in der Baukunst auf den grundlegenden Begriff der Sachlichkeit hingewiesen, der nunmehr wieder eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Mit seinen beredten Worten und seiner Anschaulichkeit hat er uns den Organismus alter Städte gezeigt und ihre gewachsene Schönheit. Und dann nahm er sich der Kunst des Gartenbaues an, der ein Teil des Städtebaus ist, und hier besonders kamen seine Neigungen zu ihrem Recht, hier war die Natur selbst, und er brauchte ihr nur wieder zu ihrer eigenen Schönheit zu verhelfen. Hier waren auch die Blumen, die ihm so sehr am Herzen lagen, um die er sich mit so großer Hingabe kümmerte und denen er so viele und dauernde Freunde erwarb.
Ein anderer Niederdeutscher hat mit einer ähnlichen Begeisterung in den Werken der Kunst dem deutschen Volk die eigene Art gewiesen. Langbehn, der den Rembrandt als Erzieher schrieb, dieses zornige und ungeduldige Buch. Aber was dieser schwärmerische Geist mit einem einzigen schweren Griff an sich zu reißen versuchte, hat jener auf den Boden eines ruhig arbeitenden Willens gesetzt. Er vermaß sich nicht, eine neue Sonne an das Firmament zu setzen, wie die Natur fing er gleichsam damit an, seine Wurzeln in das Erdreich zu schlagen, um dem werdenden Baum die Nahrung zu schaffen und die Sicherheit gegen die Stürme, die zu erwarten waren und in dem Maß, wie die Wurzeln des Baumes sich tiefer und tiefer senkten, erstarkte und wuchs der Stamm in die Höhe und in die Breite.
Als er sein Amt übernahm, fühlte er die Größe der Arbeit, die zu tun war und zögerte nicht, seine großen Ziele zu verkünden. Die Klugen und Erfahrenen mochten über den Mut des jungen Mannes lächeln; sein Werk hat ihnen bewiesen, was ein unerschütterlicher Glaube zu leisten vermag. Er hat weit mehr geleistet, als sein Amt von ihm verlangen konnte, an das man nur die Hoffnungen knüpfen durfte, die ein einfacher Mensch zu erfüllen imstande war. Als er anfing, waren in Hamburg alle Fäden einer künstlerischen Kultur abgerissen, und was noch schwerer ins Gewicht fiel, die Bereitschaft seiner Bewohner für die Kunst war aufs äußerste zurückgegangen, die wirtschaftlichen Ideen der mit Riesenschritten hochstrebenden Hansestadt absorbierten alle Kräfte und stellten ein Ideal auf, in dem für die Kunst kein Raum war. Es vergrößerte das Trostlose dieses Zustandes noch, daß es zu jener Zeit in ganz Deutschland nicht viel besser war. Es konnte so nicht weiter gehen, die Besten ergriff eine Empörung, und sie suchten einen Weg, der hinausführen könnte aus der Erniedrigung und fanden diesen Weg in der Natur. Unter ihnen war der junge Gelehrte, der die Kunsthalle verwalten sollte. Dieses Amt gab ihm die Mittel an die Hand, an einer neuen Kultur zu arbeiten, nach der ihn verlangte. Er begnügte sich nicht damit, Bilder zu sammeln, sie aufzuhängen und in irgend einen Zusammenhang zu bringen, wie man von ihm erwarten mochte und wie es Sitte war damals in Deutschland. Was sollten diese Bilder, wenn niemand da war, sie zu sehen? Hier war seine Aufgabe: er mußte dieses Volk erst dazu erziehen, daß es der Kunst sich wieder nähern konnte. Und er ging den vielleicht einzigen Weg, der zum Ziel führen konnte. Er wandte sich an den Handelssinn seines Volkes, indem er ihm sagte, daß "im industriellen Wettkampf der Völker auf die Dauer die Nation am besten fahren wird, über deren Produkte zu Hause die größte Anzahl erzogener Augen richtet", er packte es an seinem Patriotismus, indem er ihm vorhielt, daß "die künstlerische Selbsterziehung eine nationale Pflicht und Schuldigkeit und als eine Teil der allgemeinen Wehrpflicht anzusehen sei", und er baute auf die Liebe dieses Volkes zur Natur und führte es durch sie zur Kunst.
Auf diesem Weg mochte eines Tages der Gedanke zu ihm getreten sein, der sein Leben begleitete, der Gedanke, daß die Pflege der Kunst verwaist sei, weil den fürstlichen Mäcenen, denen so viele schöne Dinge zu verdanken sind, in den modernen Staaten keine Nachfolge erwachsen war, und daß die Staaten nunmehr die Pflicht hätten, diese Rolle zu übernehmen. Er besaß ein ungewöhnliches Geschick, diesen Gedanken einzuführen und ihm Geltung zu verschaffen, die Aufgaben eines Staates der Kunst gegenüber zu behaupten, festzulegen und in diesem Sinn zu handeln. Daß er den Staatswesen die Wichtigkeit der Kunst für die Regierung vorstellte, gehört zu seinen großen Verdiensten. In der Macht dieses Gedankens wurzelt die Macht der Sammlung, die er geschaffen hat. Andere Leiter von Museen haben es ihm allmählich darin gleich getan, daß sie moderne Bilder sammelten wie er, aber in diesem ging er seine eigenen Wege: daß er diese Sammlung nicht als das Ziel seiner Arbeit ansah, sondern als einen Teil der Kunstpflege. Von seinen Bildern sollte eine unsichtbare Hand wieder hinausführen in das Leben, über das sie einen Einfluß gewinnen sollten.
Mit der Unerbittlichkeit einer Naturkraft entwickelte sich die einfache Anlage, die mit der Landschaft begann, um beim Bildnis zu enden. Der Weg der Sammlung ist der Weg, den er selbst gegangen. Von der Schönheit des flachen Landes, von der blendenden Macht des Wassers, von den Winkeln der alten Stadt und von dem ewig wechselnden Antlitz des Hafens näherte er sich langsam den Menschen, den Dichtern, den Gelehrten und den Staatsmännern, die dieses Land bewohnten und beherrschten.
Er hat um die Schönheit seiner Stadt, um den Ausdruck seiner großen Männer mit den Augen seiner Hamburger Künstler geworben, er warb um sie mit den Augen der großen Maler Deutschlands und mit den Augen großer französischer Künstler. Denn alle sahen sie verschieden, aber alle arbeiteten sie an dem großen Werk, an der Verherrlichung des Volkes, zu dem er gehörte und dem der diente.
So wuchs diese Sammlung als ein Bild der Größe und Schönheit Hamburgs, dessen Kraft noch wachsen wird, wenn die Ruhe und die Abrundung zu ihm gekommen sein wird, die nur die Zeit bringen kann. Er kam nicht mehr dazu, ihm diese Ruhe selbst zu gönnen; es schien ihm immer, daß noch wichtiges an dem Werk zu tun sei; ehe er daran gehen könne, es zu ordnen.
Und wie diese Sammlung ein Bild ist von der Kraft Hamburgs, so ist sie auch ein Bild von der Kraft dieses großen Mannes.
Er hatte das Herz seines Volkes und seinen aristokratischen Geist. Es ist beinahe natürlich, daß er auch die Fähigkeiten hatte, sich zu verwirklichen, aber es ist die Gnade eines gütigen Schicksals, daß er einem Volk angehörte, das ihn am notwendigsten brauchte. Und der, der seinem Volk so seine Seele gezeigt hat, ist nun tot. Er trug den Namen Lichtwark, der leben wird, wie sein Werk.

Aus: Hamburger Correspondent, 17. Februar 1914, S. 2f
 
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