Probleme der Stilbildung II
Die geometrischen Kulturen als Durchgang zu organhaften Kulturen
Es gibt also in dem Ablauf der Kulturen eine Gesetzmäßigkeit und ein
Gerichtetsein auf ein bestimmtes Ziel hin. Die Kulturen können nicht
weiter hingenommen werden als das kombinatorische Ergebnis der
Erfindungskraft der Menschen und der tausenderlei Einflüsse, denen ihr
Tun und Handeln unterworfen ist, sie müssen erkannt werden als die
einzelnen Phasen eines Entwicklungsvorganges, der von den Menschen zwar
vollzogen wird und der auch zu ihrer eigenen Entwicklung erforderlich
ist, dessen innere Idee und Gesetzmäßigkeit aber dem Willen und der
Macht der Menschen ebenso entzogen ist wie der Gang der Gestirne. Hob
sich aber schon in der Betrachtung des kurzen Zeitraums von 6 bis 8
Jahrtausenden unserer geschichtlichen Zeit eine innere Idee einer
solchen Entwicklung ab, so möchte es aussichtsreich erscheinen, diese
Betrachtung noch auszudehnen auf eine vorgeschichtliche Zeit, wenn auch
unser Wissen von vorgeschichtlichen Kulturen noch ein sehr umstrittenes
ist. Aber es kann nicht gelingen, aus der Betrachtung eines so kurzen
Zeitraums des Menschheitserlebens, wie ihn die geschichtliche Zeit
darstellt, eines Zeitraums von kaum 100 Menschenaltern, den Weg einer
inneren Entwicklungsidee des gesamten Kulturwerdens zu deuten. Dies aber
verlangt es uns doch immer zu tun.
Reste untergegangener Hochkulturen vorgeschichtlicher Zeit - und zu
diesen Resten müssen wir auch die Substanz der Hochkulturen
geschichtlicher Zeit rechnen, denn was uns hier entgegentritt, muß schon
eine Entwicklung von Jahrzehntausenden, ja Jahrhunderttausenden hinter
sich haben - lassen uns erkennen, daß vor Jahrzehntausenden lebende
Menschen bereits eine Technik besaßen, vor deren Leistungen auch heutige
Ingenieure noch stehen wie vor Wundern. Es ist uns nicht vorstellbar,
auf welchem technischen Wege solche Leistungen vollbracht wurden. Die
Möglichkeit, daß sie aus Kraftquellen heraus vollbracht wurden, die uns
heutigen Menschen verlorengegangen sind, wird zwar noch zögernd, aber
doch mehr und mehr zugestanden. Es deutet vieles darauf hin, daß die
Menschen jener Zeitalter über hohe magische Fähigkeiten verfügten und
daß ihre Technik sich auf einer magischen Basis aufbaute. Unsere heutige
Hochtechnik entbehrt jedweder magischen Basis, sie baut sich auf auf
unserem Wissen von dem gesetzmäßigen Verhalten der materiellen Natur.
Hat die Entwicklung die erste Form (vielleicht war auch sie schon eine
dritte oder vierte Form?) einer Hochtechnik, die magische Hochtechnik,
wieder verworfen und aufgegeben, um eine Hochtechnik auf materieller
Basis zu entwickeln, wie die Natur des öfteren eingeschlagene Wege
wieder verließ, um neue Wege zu gehen, oder geschah es aus anderen
Gründen? Der Sinn aller Technik ist das Werkzeug, die Prothese, und der
Sinn aller Prothesenbildung ist die Herrschaft des Menschen. Das
Werkzeug, die Prothese (Adrien Turel: 'Technokratie, Autokratie,
Genetokratie'), das ist das ablegbare Gliedorgan, das dem Menschen in
der Entwicklung seiner anatomischen Gestalt die endgültige Befreiung
brachte von der Notwendigkeit der Ausbildung körpereigener Organe zur
Steigerung seiner Kampfkraft und seiner Leistungen im Laufen, Schwimmen,
Fliegen, im Sehen und Hören. Die Prothese gestattete dem Menschen in
anatomischer Primitivität zu verharren (oder zu anatomischer
Primitivität sich zurückzubilden?), sich der Spezialisierung zu
entziehen, durch die Ausbildung nicht körpereigener Organe die
Herrschaft zu erringen und mit Prothesen nicht nur alle Wesen der Natur
in der Leistung ihrer Organe der Fortbewegung im Wasser, auf dem Lande
und nun auch in der Luft zu übertreffen und sie mit weit überlegener
Kampfkraft seinem Willen zu unterwerfen, sondern es gelang ihm auch, die
inneren Kräfte der Natur in seine Macht zu bringen. So kann man also die
anatomische Primitivität des Menschen (Edgar Dacqué, 'Das Leben als
Symbol') in ursächlichen Zusammenhang bringen mit der Idee der
Prothesenbildung: der Mensch verzichtet auf die Ausbildung körpereigener
Organe und erreicht durch Prothesen Mannigfaltigkeit und Vielfalt der
Leistungen und ein Ausmaß derselben, das er bei der Ausbildung
körpereigener Organe nie hätte erreichen können. Das bedeutet
gleichzeitig, daß er nun auch beginnen kann, alles Tierhafte und
Tiergestaltete an sich selbst abzustreifen. Jetzt können alle die
Mischgestalten aus Mensch und Tier, die tier- und vogelköpfigen
Menschen, die zwei- und vierbeinigen Menschen mit Flügelpaaren, die
Vogel- und Fischmenschen, die stirnäugigen Riesen und die Zwerge, alle
die verschiedenen Arten des Urhomo aus der Entwicklung verschwinden (und
zugleich können auch die besonderen psychischen Lebensformen und
Beschaffenheiten dieser Mischgestalten verschwinden). Sie leben wohl
noch weiter in Sagen und in Bildern, aber sie verschwinden in der
Wirklichkeit, denn es wird immer wahrscheinlicher, daß sie in der Tat
gelebt haben und nicht nur Geschöpfe und Kombinationen der Phantasie
sind. Zur selben Zeit mit dem Verschwinden dieser Versuche der Natur auf
dem Wege zur Gestaltfindung des Menschen, mit dem endgültigen Siege der
Gestaltidee des homo sapiens, mit dem Verschwinden der natursichtigen
Menschenwesen und ihren magischen Fähigkeiten, schwenkt auch die
göttliche Geometrie ein in ihren Sektor des Rationalen. Die Würfel sind
gefallen, es geht nun auf die Ausbildung der Prothesenbildungen zu.
Diese Entscheidung scheint in dem Zeitalter der magischen Hochtechnik
noch nicht möglich gewesen zu sein: der magischen Basis des Technischen
muß auch eine magisch bestimmte Konstitution vorgeschichtlicher Menschen
entsprochen haben. Die Gestaltbildung des heutigen Menschen ist rational
wie seine Technik.
Unser Zeitalter der Prothesenbildung ist undenkbar ohne die vorherige
Schulung des Geistes in der Beherrschung der Materie und alles
Körperlichen, ohne Ausbildung einer rationalen Geometrie und Mathematik,
ohne Systematik und ohne wissenschaftliche Arbeitsmethoden. Diese
Schulung verdanken wir jedoch gerade den geometrischen Kulturen. Das
ungeheure Anwachsen unserer Hochtechnik in den letzten Jahrhunderten
selbst kann aber nur als ein Symptom steil hochschießenden organhaften
Gestaltschaffens gedeutet werden. Technik kann nur organhaft gestalten,
denn sie gestaltet im Interesse einer Leistungserfüllung.
So hätten wir also die geometrischen Kulturen anzusehen als einen
Durchgang von einem magischen Kulturzeitalter zu einem Zeitalter
organhafter Kulturbildungen einer uns noch unvorstellbaren
metaphysischen Beschaffenheit, als eine Zeit inneren Umschmelzens und
Umbildens zu neuer Kulturgestalt, die mit einer Epoche der
Prothesenbildungen beginnt. Daß dieses Zeitalter organhafter
Kulturbildungen eine neue Entfaltung seelischer Mächte bringen wird,
dürfte wohl nach allem überhaupt als der Sinn dieser neuen Hochtechnik
der Prothesenbildungen gedeutet werden können. So wäre denn das Opfer
der Verdrängung der seelischen Entwicklung, das Opfer der Verkümmerung
der seelischen Erlebnisformen, das diese Jahrtausende der Herrschaft des
Geistes und der Herrschaft des Rationalen den abendländischen Menschen
auferlegte, doch am Ende nicht umsonst gebracht, wenn es zu dem Ergebnis
führte, daß wir dem Verlorenen auf einer höheren Ebene wieder
begegneten.
Von der göttlichen Geometrie aus gesehen, mögen diese Jahrtausende als
eine Zeit des Verfalls dastehen, von der Entwicklung der Kulturwesen und
also auch des Menschenwesens aus gesehen dienen sie der Vorbereitung
größerer Zukunft. Daß ein Zeitalter der Prothesenbildung als Vorbereiter
eines neuen Kulturzeitalters erst alles zerstört, was an Kulturgut oder
Kulturschutt aus früheren Jahrtausenden sich ihr entgegenstellt - und
das ist alles, was konstitutiv geometrisch ist - ist selbstverständlich.
Daß es deshalb u.a. auch den griechischen Tempel zerstören mußte, um dem
neuen Leben entgegengehen zu können, ist ebenso selbstverständlich. (Und
diese Zerstörung ist nicht ein Werk der letzten Jahrzehnte, sondern
setzte bereits vor mehr als zwei Jahrtausenden ein, in dem Augenblick
nämlich, als dieses Formwesen erschlossen war.) Es zerstört, indem es
die Formwesen ihres letzten Inhaltes beraubt, indem es sie verbraucht.
Durch den Schutt dieser Zerstörung hindurch drängt aber bereits eine
neue Welt, ja gerade sie ist es, deren junge Lebenskraft diese
Zerstörung herbeiführt. Sie sammelt auch ihrerseits alles, was wesenhaft
zu ihr gehört und was in der Vergangenheit unterdrückt war, das ist
alles organhafte Gestalten und alles im Sinne des Organhaften
Konstitutive. Sie weist ihm einen neuen Platz in der Entwicklung zu und
legt ihm einen neuen Sinn bei. Das Genie der abendländischen
Kulturvölker hat in den letzten Jahrhunderten in unerhörter
Leistungskraft eine neue Wissenschaft, eine neue Technik und neue
Erfindungen hervorgebracht, die nicht um ihrer selbst willen da sind,
sondern um eine neue Kultur vorzubereiten. Wer will angesichts dieser
ungeheuren Leistung noch von einem Nachlassen der Schöpferkraft der
abendländischen Menschen sprechen? Es bildet sich eine Kultur aus
innerem Trieb und ohne Vorbild in der Vergangenheit. Was soll dieser
Kultur Vorbild?
Kulturen bilden sich, wenn Formwesen einen neuen Inhalt darbieten und
wenn dieser Inhalt mit konstitutiver Macht an die Menschen greift, sich
auf die Menschen herabsenkt (Frobenius). Kulturbildungen nehmen nicht
immer denselben Weg der Entfaltung, denn so, wie sie nur der
Gesetzhaftigkeit ihres eigenen Formwesens nach sich entwickeln können,
und so, wie diese Formwesen ganz verschiedener Wesenheit sind, so werden
sich auch die Kulturen diesen verschiedenen Wesenheiten gemäß bilden.
Die Inhalte einiger Formwesen wandten sich an die geistigen Fähigkeiten
der Menschen, andere Inhalte wandten sich an ihre religiöse
Erlebniskraft. Die konstitutive Macht, die wir heutigen Menschen
erkennen, ist die Natur. Die Kultur, die sich aus dieser Wesenheit
entwickelt, wird eine andere sein als die, die sich aus den
geometrischen Formwesen entwickelte. Auch ihre Kulminationspunkte werden
andere sein.
Eine organhafte Kultur kann u.a. keine Architektur haben, sie kann nur
eine Baukunst haben. Doch ist es fraglich, ob in einer organhaften
Kultur eine Baukunst die Bedeutung haben wird, die die Architektur in
den geometrischen Kulturen hatte, denn es ist fraglich, ob die Idee
dieser Kultur, das Irrationale und Metaphysische dieses konstitutiven
Prinzips sich gerade in der Baukunst am stärksten verwirklichen wird -
daß die Vergangenheit es teilweise getan hat, ist noch kein Grund, daß
auch die Zukunft es tun wird. Näher schon steht der Organik die Musik,
am nächsten aber die Natur selbst: "der gestirnte Himmel über uns"
(Kant).
Es entspricht einer Entwicklung eines Formwesens immer auch eine
Entwicklung und ein Zustand des Seelischen bei den Menschen. (Es
entspricht ihr übrigens auch eine Entwicklung des rein Physiologischen
bei den Menschen, worüber Gustav Britsch einige grundlegende
Untersuchungen gemacht hat.)
Von solcher Schau her möchten wir nun auch die Rolle neu begreifen, die
die geometrischen Figuren in einer Gruppe von Kulturindividuen als
konstitutive Prinzipien spielten. Als Nicht-Natur, als Nicht-Leben, als
Nicht-Organ, und erst als solche greifen die geometrischen Figuren in
das organhafte Werden der Kulturorganismen ein und entwickeln ihren
Anspruch auf eine ausschließliche Herrschaft des Geistigen. Damit erst
wird in einer Gruppe von Kulturen jener innere Gegensatz hergestellt
(und nur in ihr), den wir eben als den Gegensatz zwischen Geometrie und
Organik bezeichnet haben. So geschieht es, daß in einem einzelnen
Kulturindividuum zwei konstitutive Prinzipien gleichzeitig wirken und um
ihren Anteil an der Gestaltbildung der Kulturen ringen.
Es ist das Verhältnis dieser Anteile der Geometrie und der Organik in
den einzelnen Kulturindividuen, das die Situation dieser Individuen
bestimmt, das ihnen ihre Inhalte gibt, ihr Beschaffensein, ihr
Gerichtetsein, ihre Grenzen und ihre rationalen und irrationalen
Vorzeichen. Diese beiden Prinzipien wirken konstitutiv, d.h. sie
bestimmen die Wesenheit eines Individuums in allen ihren gestaltmäßigen
Einzelheiten und Verzweigungen, sie bestimmen alle Äußerungen und
Regungen, und auch das Seelische ist von dieser Macht nicht
auszuschließen.
Das Volkhafte in den Kulturen
Architektur-Geometrie setzt hohes geistiges Wissen voraus. Ausdeutung
und Auswertung rein abstrakter Zusammenhänge, rein geistiges
Konstruieren fordert besondere Schulung, besondere Kenntnisse. Nur
ausgewählte Kreise konnten in dieses Wissen um Architektur und Geometrie
eingeweiht werden. Kreise, die sich aus der Volksgemeinschaft abtrennen
und abzutrennen getrieben werden. Organik hingegen ist Sache eines
einfachen, unwissenden, ungeschulten, nicht eingeweihten Volkes, Sache
der Masse aller Namenlosen der unteren Schichten. (Die sich in den
geometrischen Kulturen aus den verschiedensten Völkerschaften und
Rassenelementen zusammensetzen.) Der anfängliche Mensch baut und
gestaltet seine Werkzeuge, seine Waffen, seine Geräte, sein Haus in der
Erfahrung der Natur organhaft, im Interesse einer Leistungserfüllung,
und wo er bildnerisch gestaltet, geschieht es im Interesse einer
Ausdruckswirkung (und also gewissermaßen im Interesse einer psychischen
Leistungserfüllung). Architektonisches Schaffen treibt von allem
intuitiv bildnerischen Schaffen weg, wie es von der Pflege psychischer
Kräfte wegtreibt, zur Pflege des Geistigen, der Wissenschaften, der
Systematik, der Beherrschung des Materiellen. Architektonik-Geometrie
ist immer volksfeindlich.
So spaltet Architektonik die Völkergemeinschaften auf in Wissende und in
Unwissende, in Herrschende und in Beherrschte. Architektonik steht gegen
Organik, wirkt polar. Wo das Volk wirkt, wirkt Organhaftes, wirkt es
organhafte Gestaltung und bildnerische; wo Herrschende wirken, wirken
sie durch Architektonik, wo Geistiges herrscht, herrscht es durch
Geometrie. Wo Architektonik und Organik um ihre Position kämpfen, kämpft
Herrscherwillen gegen Volkswillen, kämpfen herrschende Schichten einer
Gesellschaft um die Sicherung ihrer Ansprüche gegen den Lebenswillen des
Volkes. (Wobei der Gegensatz Herrscherwillen und Volkhaftes auch quer
durch die einzelnen Individuen geht.)
Ziehen wir eine Trennungslinie durch die Kulturen zwischen Architektonik
und Organik - sie läuft quer durch die Kulturen und quer durch die
einzelnen Werke hindurch -, so besteht eine große Übereinstimmung auf
der Seite der Architektonik in allen Kulturen und eine ebenso große
Übereinstimmung auf der Seite der Organik in allen Kulturen. Die
wesenhaften Gegensätze treten innerhalb der einzelnen Kulturen selbst
auf, zwischen Architektonik und Organik. So zeichnet sich eine
Internationalität auf dem Boden der Architektonik ab und eine andere
Internationalität auf dem Boden der Organik. Da Architektonik ein rein
geistiges Konstruktionsprinzip, ein geometrisches konstitutives Prinzip
ist und losgelöst ist vom Boden und allen psychischen
Gestaltungsverlangen, so sind alle ihre Gestaltungen in allen Ländern
vollkommen gleich, während die Organik eine aus der Landschaft und allem
psychischen Leben stammende Mannigfaltigkeit schafft und in ihrer
konstitutiven Mannigfaltigkeit und bildnerischen Ausdruckskraft dem
Reichtum der Natur nacheifert.
Für die Entwicklung der Architektur und der Geometrie ist das Volkhafte
ohne jede Bedeutung. Architektur bindet die verschiedensten
Völkerschaften und Rassen zu einer Kulturgemeinschaft zusammen. Und
gerade die großen Verschiedenheiten der Völker und Rassen in diesen
Kulturgemeinschaften wirken Fruchtbarkeit und Mannigfaltigkeit in den
einzelnen Kulturindividuen. In dem Maße aber, in dem das Organhafte
wesentlich wird in den Kulturen, wird auch das Volkhafte entscheidend.
Organhafte Kulturen können sich nur auf dem Boden des Volkhaften
entwickeln.
Kulturgemeinschaften der Architektonik stehen, entstehen unter
staatlichen Bindungen, sind Machtgeschöpfe herrschender Schichten.
Kulturgemeinschaften der Organik erwachsen aus dem Boden gemeinsamer
Glaubensmächte, sind Einheiten aus der Gemeinsamkeit seelischen
Erlebens. Kulturen der Architektonik (nachdem sie aufhörten, magisch zu
sein) sind rational; Kulturen der Organik sind transzendent.
In dem Ablauf der Kulturen zu der Organik hin kommt mit der Organik auch
das Volkhafte in den Vordergrund. In der Geschichte der abendländischen
Kulturen ist dieses Vordringen der Organik gegen die Wesenheiten der
geometrischen Architektonik in allen Äußerungen des Kulturlebens, in
allen geistigen und seelischen, in allen gesellschaftlichen und
materiellen Problemen die eigentliche Ursache des Stilwandels. (Wenn man
auf die Zusammenhänge der Stilentwicklung mit Veränderungen im
gesellschaftlichen Leben etwa hingewiesen hat, so geschah das mit Recht;
doch sind die Veränderungen in den Formen des Gesellschaftslebens nicht
die Ursache der Stilentwicklung und Stilveränderung, sondern beide sind
nur die Folge der naturhaften Entfaltung von Formwesen. Es wirkt ein
Formwesen alle Erscheinungen einer Kultur, und es wirkt sich in allen
diesen Erscheinungen.)
Wenn West z.B. in der Entwicklung der Renaissance in Italien zwei
Richtungen unterscheidet, eine lateinische Renaissance und eine
wirkliche italienische, so entspricht diese Unterscheidung dem, was wir
hier Architektonik und Organik nannten. Hierin sieht nun West einen
Rassenkampf zwischen Latinismus und Germanismus. Es ist richtig, daß das
Organhafte bei den germanischen Völkern eine entscheidende Rolle spielt
und daß die germanischen Völker in die Entwicklung zur Organik hin
stärker eingreifen und eingegriffen haben als die anderen Völker des
Abendlandes, aber dies ist kein Grund, nun auch alle organhafte
Gestaltung überhaupt als germanisch und als das Symptom eines
Rassekampfes des Germanischen gegen den Latinismus - der ein Formproblem
und kein Rasseproblem ist - zu beanspruchen. Hier kämpfen überhaupt
keine Rassen, sondern Formwesen. Latinismus ist die Partei der
geometrischen Formwesen, Organik, hier bildhaftes Ausdrucksverlangen,
ist die Partei des Volkes. Volk ist aber nicht identisch mit Rasse.
Volkhaftes ist Wesensform alles Rassischen und jeder Rasse.
Kultur und Rasse
Die Formwesen der Geometrie sind in ihrem rationalen Sektor nicht auf
die seelischen Beschaffenheiten ihrer Züchter angewiesen, sondern nur
auf deren geistige Fähigkeiten. Sie wenden sich nur an diese letzteren.
Deshalb kann es nicht gelingen, die Kulturen der Geometrie in eine
engere Beziehung zu bringen zu den seelischen Beschaffenheiten, dem
rassischen Wesen ihrer Züchter. (Oder aber gar das Wesen dieser Kulturen
zu erklären aus dem Wesen des Rassischen heraus, wie das West versucht.
Was wir von der Rasse der Griechen wissen, das haben wir ja überhaupt
erst aus ihrer Kultur geschlossen. Unser Wissen von dem Wesen dieser
Rasse ist also nicht nur ein indirektes, sondern auch noch ein sehr
unbestimmtes und unvollständiges. Auch wissen wir nicht, ob und wann wir
dem wirklichen Wesen dieser Rasse gegenüberstehen. Denn diese selbe
Rasse lebt ja in verschiedenen Phasen einer Formentfaltung: die frühen
Dorer befinden sich nach West in einem großen Gegensatz zu den Kretern,
welcher Gegensatz in rassischen Besonderheiten begründet sei; später
aber wird dieser Gegensatz geringer. Soll man daraus schließen, daß die
Rasse sich geändert hat? Ist diese spätere Phase ein Symptom einer neuen
rassischen Willenssetzung, das dem inneren Wesen dieses
Rassenindividuums näherliegt als die frühere Phase, oder ist es
vielleicht gerade umgekehrt? Wir sind der Meinung, daß der Formwandel
überhaupt nicht von den Menschen bestimmt wird, also auch nicht von
Rassen, sondern von der Form selbst.)
Wesen und Entwicklung der Kulturen der Geometrie sind vollkommen
unabhängig von rassischen Beschaffenheiten der Völker.
Sobald aber Formwesen nach einer Entfaltung ihrer seelischen Aspekte
verlangen, sind sie auf Völkerschaften angewiesen, die ihrerseits dem
Dargebotenen besondere seelische Beschaffenheiten entgegenbringen, denn
nur auf dem Boden seelischer Zugehörigkeit und inneren Verstehens kann
eine Pflege und ein Ausschöpfen solcher Inhalte möglich werden.
Die erste entscheidende Wendung zur Organik hin, die sich durch den
Kreis vollzog, ruft denn auch zum erstenmal in dieser ganzen Entwicklung
Völker auf, die auf einer Glaubensbasis geeint sind und sich rassisch
genähert hatten. Sie erkennen in Kreis und Kuppel die Formwesen, die
ihrem Form- und Ausdrucksverlangen Nahrung geben. In dem Erleben der
Kuppel von innen her finden sie die Wesenheit einer magischen Kultur.
Ein zweites Vordringen der Organik in diesem Kulturablauf ruft wiederum
Völkerschaften auf, die, durch ein neues religiöses Erleben erweckt, der
weiteren Entfaltung der seelischen Inhalte der dargebotenen Formwesen
die Empfänglichkeit ihrer mystischen Ergriffenheit entgegenbrachten.
Aber entscheidender als diese seelische Aufbereitung war hier die
rassische Wesenheit der Völker: die Gotik wird nicht von einer Lehre
erkannt, sondern von einer Rasse. Auf zwei Wegen stürzt lange gestautes
Gestaltungsverlangen der germanischen Rasse vor, auf dem des
Technisch-Konstruktiven und auf dem des Bildnerisch-Ausdruckshaften. Das
Christentum baut auch auf anderem Boden Kirchen, aber nie gotische. Für
diese Formphase wird also das Rassische wesenhaft.
(Zwei möglichen Aspekten des Christentums, einem magischen und einem
gotischen, entsprechen also - in einem Abstand von nahezu tausend Jahren
- Kulturen und Stilbildungen. Die zweite Kulturbildung steht auf dem
Boden reiner Organik, die erste ist noch stark geometrisch gebunden:
dies mag den zeitlichen Abstand der beiden Kulturen erklären. In der
eigenzeitlichen Abwandlung der Formwesen kann keine Phase übersprungen
werden.)
Worin aber besteht die züchterische Arbeit der germanischen Rasse an den
dargebotenen Formwesen?
Bogen und Kuppel hatten sich dem Germanischen in magischer Bindung
genähert: im Romanischen und noch im frühen Gotischen ist wesentlich
magische Substanz, und nicht nur als Erbe, sondern auch noch als Ziel.
Germanisches Ausdrucksverlangen beseitigt die peripherische Bindung der
Kuppel, beseitigt den letzten Rest geometrischer magischer
Vergangenheit, beseitigt auch die Fläche und weitet den Ausdruck ins
Mystische. Magische Formgeschlechter werden zu mystischen
Formgeschlechtern weiterentwickelt in einem ganz naturhaften
Entwicklungsprozeß. Und als dieser Prozeß in seiner Eigenzeit wieder zu
Ende ist, als die Wesenheit auch dieser Formgeschlechter entwickelt war,
ist auch für die germanische Rasse die Arbeit an der Gotik beendet.
(Magisch setzt noch die Grabkapelle Karls des Großen an, doch tastet sie
schon nach dem Mystischen; Magisches behauptet sich zutiefst in der
Kathedrale zu Chartres, was dieser nicht zuletzt ihre jenseitige Größe
gibt.)
Für diese Entwicklung der Formkulturen zur Organik hin müssen wir die
Mitwirkung bestimmter seelischer Eigenschaften annehmen, seelische
Beschaffenheiten, in denen wir vor allen Dingen die Bereitschaft und die
Möglichkeit zu magischem oder mystischem Erleben hervorheben müssen.
Aber können wir hieraus schon schließen, daß diese Völkerschaften in der
Erfahrung des Magischen oder Mystischen bereits ihre letzte Möglichkeit
hinsichtlich der in einer weiteren Formentwicklung noch zu erwartenden
Aufgaben und Aufträge erschöpft haben und daß sie also hierin bereits
das Wesenhafte ihrer rassischen Begabung erkennen müßten, oder ist diese
Kultur der Gotik etwa nur eine vorläufige und vorbereitende Erfüllung
und eine erste Phase oder auch schon vielleicht eine zweite oder dritte?
Dieser Gedanke wäre mindestens aller entwicklungswilligen und
entwicklungsbereiten Zukunft zu unterstellen und nicht etwa
vorzuenthalten. Folgte nicht der klassischen Antike der Hellenismus,
einer vollkommen rationalen Kulturidee eine schon ins Magische
hinüberweisende neue? Freilich kann man dazu sagen, daß die Kultur der
Griechen dann eben dieser neu aufkommenden magischen Kulturidee
unterlag; aber die Formkulturen gehen in ihrer Eigengesetzlichkeit
weiter, ohne sich um das Schicksal der Völker zu kümmern, denen sie in
irgendeiner Phase ihrer eigenzeitlichen Entwicklung begegneten. Die
Griechen mußten ihre Kulturwelt in dem nun einmal angelegten Sinne zu
Ende gehen, auch nachdem die Formwesen ihrerseits schon in das Magische
hinüberwuchsen. Den Formkulturen als einem Organismus ist diese
organhafte Weiterbildung möglich, der einzelnen Wachstumsphase sind
engere Grenzen gezogen. Das Erbe, das Erformte, das Erlebte hat die
Griechen gehindert, weil dieses Erlebte in innerstem Widerspruch zum
Magischen stand - obwohl sie von ihrem Erlebnis nur noch die Schale in
Händen hielten. Die Kreiskultur, die die Welt als Kuppel empfinden läßt,
in der man von Innen nach Außen vorschreitend sich bewegt, ist dem Wesen
der griechischen Kultur, dem rationalen Rechteck ganz fern; sie ist fern
aller rationalen, mathematischen Gesetzhaftigkeit, fern aller
Proportionen, ferner aller körperhaften Gestaltbildung, ja vollkommen
gegensätzlich zu ihr. Diese magische Welt ist eine Verneinung der
griechischen. Sie war den Griechen verwehrt. Den organhaften Kulturen
aber ist vielseitigeres Erleben möglich.
In allem Kulturgeschehen haben die germanischen Völker immer die Partei
der Organik ergriffen , haben sie zu dem Wesenhaften des Innen sich
bekannt, haben sie organhaft gestaltet und um einen bildnerischen
Ausdruck gerungen. Reiner Organik gehört ihr Leben an vor dem
Zusammentreffen mit den geometrischen Kulturen des Mittelmeers, und was
sie nach diesem Zusammentreffen an Kulturgütern schufen, ist um so
germanischer, je mehr es der Organik, je weniger es der
Architektonik-Geometrie angehört. Daraus müssen wir den Schluß ziehen,
daß in der Entwicklung einer organhaften Kultur die noch nicht erfüllte
Aufgabe der germanischen Völker liege, daß wir darin den ihnen in der
Entwicklung zugedachten, weil ihren seelischen Veranlagungen und
Neigungen entsprechenden Auftrag zu erkennen hätten.
Solchermaßen aber wäre das rassische Moment in der Bildung von
Formkulturen auch nicht als ein schöpferisches anzusehen, sondern nur
als ein ausschöpfendes, wie denn alle Tätigkeit der Menschen an den
Formen nicht als eine schöpferische, sondern nur als eine ausschöpfende
sich ergibt. Was nicht nur in bezug auf die Völker seine Geltung hätte,
sondern auch in bezug auf die einzelnen Individuen. Die Genialität eines
Volkes, wie die einzelner Individuen, liegt nur in der Fähigkeit des
Erkennens neuer Forminhalte und nicht in deren Erschaffung. Auch scheint
es, als ob diese Inhalte der Formen ausgeschöpft werden müßten,
gleichgültig, welchen Wert sie im Augenblick für den geistigen und
seelischen Aufbau der Schöpfenden haben. Denn dies scheint für das
Eigenleben der Formwesen nötig zu sein, daß alles in ihnen Lebende zur
Entfaltung kommt und ausgestoßen oder vielmehr ausgeformt wird,
gleichgültig, ob die Menschen davon einen Nutzen haben oder nicht.
Knüpfen nicht oft spätere Generationen an dem achtlos als Schutt
Weggeworfenen und Liegengebliebenen früherer Formkulturen wieder an, um
daraus neue Formen zu züchten? Und kaum haben Formwesen sich einige Zeit
erholt, bieten sie neuen Menschen neue Inhalte an. Kann man auch die
Gleichzeitigkeit vieler Vorgänge und Geschehnisse, Entwicklungen, Ideen,
Entdeckungen und Erfindungen usw. anders erklären, als indem wir eine
solche über uns Menschen sich hindehnende und wegziehende eigenzeitliche
Formentfaltung annehmen?
Schließlich aber gibt es in den organhaften Kulturen auch ein Problem
der Rasse noch in einem anderen Sinne als in dem seither gemeinten, weil
es ein Problem der Rasse gibt für alle organhaften Wesen und also auch
für die Kulturen. Alle organhaften Individuen, die ein ihnen wesenhaft
gesetztes struktives Prinzip, eine konstitutive Idee vollkommen
erfüllen, haben die Merkmale des Rassigen. Das will heißen, daß auch
alle Gestaltbildungen, die in organhaftem Sinne erfolgen, indem sie von
innen nach außen sich bilden, in Erfüllung einer ihnen gesetzten
konstitutiven Idee, wenn sie den höchsten Grad der ihnen möglichen
Vollkommenheit erreicht haben, auch Rasse haben. Rasse ist ein Merkmal
aller auf dem organhaften Wege erreichte Vollkommenheit. Rasse werden
alle Dinge einer zukünftigen organhaften Kultur haben. Aber nicht unsere
Rasse werden sie haben, sondern ihre eigene. Wenn wir fordern, daß wir
den Dingen, die wir schaffen, zu ihrem eigenen Wesen verhelfen sollen,
daß wir sie nach ihren Gesetzen und nicht nach unseren Gesetzen oder
Launen bilden sollen, so wissen wir doch auch, daß die Dinge trotzdem
ihre Zugehörigkeit zu uns nicht verleugnen. Alle die Werke der rein
organhaften Gestaltung, die in den letzten hundert Jahren in immer
größerer Reinheit entstanden sind, Geräte, Werkzeuge, Sportkleidung,
Flugzeuge, auch Maschinen und Ingenieurbauten usw., tragen doch alle
noch die deutlichen Merkmale ihrer Abstammung. In alle diese Dinge
fließt etwas von uns hinein, sei es etwas von unserem bildnerischen
Ausdrucksverlangen, sei es etwas von unseren Bindungen an stoffliche und
landschaftliche Gegebenheiten, sei es schließlich etwas von unserer Idee
eines vollkommenen Wesens. Aber das alles ist nicht Ziel, sondern
Gebundenheit.
In dem größten und reinsten Beispiel einer alten organhaften Kultur, in
der japanischen Kultur, ist eine so vollkommene Identität der Rasse der
Dinge mit der Rasse der Menschen erreicht, daß wir das eine durch das
andere erkennen.
(Wenn hier von der Rasse der Dinge und der Menschen die Rede ist, so sei
nicht vergessen, daß auch die letzteren in hohem Maße Geschöpfe der
Landschaft sind und also auch der Natur .) In diesem Sinne ist alle
organhafte Kultur wahrhaft bodengebunden und bodenständig und dies in
einem viel tieferen Sinne, als es die geometrischen Kulturen jemals sein
können.)
Man glaubt, dem letzten Jahrhundert, insbesondere aber unserer Gegenwart
den Vorwurf eines Nachlassens der kulturschöpferischen Kräfte machen zu
sollen. Man stellte der Kultur des Abendlandes die Diagnose ihres
Unterganges. Man hält ihr Absinken in eine materialistische, technische
und mechanistische Zivilisation für ein biologisch gefordertes
Schicksal. Aber gerade die biologische Gesetzmäßigkeit, die in dem
Entwicklungsplan der Kulturorganismen unverkennbar ist, weist uns andere
Deutung des Geschehens. Wir stehen am Ende eines Zeitalters der
geometrischen Kulturen und am Anfang eines Zeitalters organhafter
Kulturen. Es ist wohl zu verstehen, daß diese Zeit des Übergangs eine
Zeit innerer Umbildungen, innerer Zersetzungen sein muß, aber dies ist
nicht auch schon ein Grund, deshalb das Hinschwinden aller
schöpferischen Kräfte anzunehmen. Dieser ganze Vorgang der inneren
Zersetzung läßt doch auch aufs deutlichste schon erkennen, daß ihm ein
neues Ziel zugrunde liegt. Wenn alles Kulturgut immer noch einmal auf
seinen geistigen und seinen metaphysischen, auf seinen materiellen und
seinen immateriellen Wert hin untersucht und durchsucht wird, so kennt
alles dieses Suchen und Ergründen doch immer nur das eine Ziel, dem
Geheimnis des Werdens und dem Geheimnis des Lebens näherzukommen. Das
letzte Jahrhundert bis in unsere Gegenwart suchte und sucht doch in
allem immer nur die neue Erfahrung des Innen. Und nicht nur das letzte
Jahrhundert mit seinen vielen Stilversuchen und seinem vielen Stilsuchen
suchte diese Erfahrung des Innen, sondern die germanischen Völker haben
dies in der ganzen Zeit ihres Zusammenseins mit den geometrischen
Formwesen getan; sie haben nie nach den Gesetzen des Außen gesucht.
Während eines Jahrtausends hat dieses Suchen nach dem Innen durch vier
Stilphasen, durch vier Formwesen hindurch, durch Romanisch, Gotisch,
Renaissance und Barock hindurch den eigentlichen Zusammenhang
hergestellt und je nach dem Gehalt dieser Phasen an Architektonik oder
Organik dem eigenen Kulturverlangen Nahrung zugeführt. Man ist versucht
zu sagen, daß sie auch da noch das Innen suchten, wo sie sich mit dem
klassischen Außen beschäftigten, auch dann noch das Innen meinten, wenn
sie sich im Anblick der klassischen Kunst verloren. Würde man mit West
den Stil als ein Geschöpf der Rassen ansprechen, so käme man in große
Verlegenheit, den Charakter einer Rasse richtig zu bezeichnen, die
gleich in vier Stilen von sehr verschiedener Wesenheit ihre eigene
Wesenheit manifestiert hätte. Abgesehen davon, daß die Tatsache der vier
Stile ja nur beweisen würde, daß die germanischen Völker einen eigenen
Stil noch nicht haben, kann man diese vier Stile nicht als Stile der
germanischen Rasse beanspruchen. Die germanischen Völker haben ihnen
gegenüber nur bewiesen, daß sie der Organik angehören. In der
Hochtechnik, die sie seit vier Jahrhunderten entwickelten, bewiesen sie
ebenfalls, daß sie der Organik angehören. In der Gotik und im Barock
bewiesen sie ein andermal, daß sie der Organik angehören. Die Gotik ist
ein Vorläufer einer organhaften Kultur, das deutsche kirchliche Barock,
nicht das höfische, ein zweiter Vorläufer. Beide Male gelingt ein
unerhörter Aufschwung ins Metaphysische, aber beide Male wird die
Architektonik nicht ganz oder noch nicht endgültig überwunden. Neue und
tiefere Erfahrung der Natur und ihrer kosmischen Gesetze scheint nötig
zu sein, um Architektonik-Geometrie entbehrlich zu machen. Gab Gotik
eine Befreiung gebundenen Lebenswillens durch eine Religion, das Barock
durch Musik, so waren dies doch alles erst teilweise Befreiungen. Erst
tiefere Ergriffenheit vor kosmischem Geschehen wird die letzten Reste
der Architektonik-Geometrie auflösen und beseitigen, um einem neuen,
umfassenden organhaften Lebensgefühl Raum zu machen. Und zu dieser
tieferen Ergriffenheit führen Wissenschaft und Technik. Wissenschaft und
Technik führen selbst aus dem Mechanismus, Materialismus, Rationalismus
wieder heraus, in den sie uns hineingeführt haben, durch den sie uns
hindurchgeführt haben. (Darin mag man die Metalogik höheren
Kulturgeschehens erkennen.) Beide schufen die Voraussetzungen für eine
organhafte Kultur auf neuer Ebene; höchste Prothesenkraft und höchste,
noch nicht beendete Steigerung und Erweiterung unserer Sinnenkraft
führen die Menschen heute wieder vor die Geheimnisse kosmischen
göttlichen Geschehens. So geht ein Weg vom Urhomo, einem homo divinans,
zum homo sapiens, zum homo faber, zu einem anderen homo divinans.
Finden wir in so gedeutetem Geschehen auch den Weg zu heutigem Handeln,
so möchte es uns leicht erscheinen, in allem nach
Architektonik-Geometrie und Organik zu scheiden und den biologischen
Wert des Einzelnen in diesem neuen Kulturwerden zu erkennen.
Eine Kultur wird nicht von Menschen geschaffen. Höheres planhaftes
Formgeschehen bezieht Menschen ein, bietet Menschen die Möglichkeit zu
eigener Entfaltung. Nicht nach dem Willen der Menschen geschieht dieses
Werden, sondern nach den Gesetzen höherer Wesenheiten. Die Menschen sind
hier nur Werkzeug. Eine Hochtechnik ist ohne unseren Willen, ohne unser
Wissen um ihre Ziele entstanden durch den Trieb einer Rasse zu
organhaftem Gestalten und Bauen, entstanden aus anonymen Kräften heraus.
Eine neue Wissenschaft ist im Entstehen durch eine innere Umwälzung
aller Erfahrungen, herbeigeführt durch denselben Trieb einer Rasse zu
den Geheimnissen der Natur und des Werdens, und ein neues Bauen ist seit
Jahrhunderten im Werden, herbeigeführt durch ebendenselben Trieb einer
Rasse zu den Gestaltschaffungen der Natur. Überall zeigen sich uns heute
die uralten Spuren dieses Triebes bis in vorgeschichtliche Zeiten
hinein. Älteste Tradition führt uns - nach einigen Jahrtausenden des
Lernens und Vorbereitens - zu einer Kultur der Organik.
Geometrische Kulturen beginnen mit der Errichtung von Tempeln, mit der
Pflege der Formen der Offenbarung Gottes, beginnen mit einer Gottidee,
die eine Idee höchster Macht ist. Organhafte Kulturen beginnen im
Profanen, in den Dingen des täglichen Lebens. Sie beginnen im Volke und
im Volkhaften, sie beginnen nicht durch die Wissenden und Herrschenden.
In organhaften Kulturen beten die Völker zu ihrem Gott unter freiem
Himmel - der Tempel der Organik ist die Natur -, und ihre Toten
verbrennen sie oder sie versenken sie in Flüssen, damit das lebendige
Wasser sie aufnehme und ewig über sie hinfließe. In den geometrischen
Kulturen sichern die Herrschenden die Erhaltung ihrer Körper, indem sie
sie mit Mauern des unzerstörbaren, doch toten Gesteins umgeben.
Geometrische Kulturen unterwerfen alle Dinge und Menschen einem Gesetz
der Erscheinung, sie gleichen sie sich äußerlich an, indem sie sie
innerlich abtöten und zur Sache machen. Organhafte Kulturen pflegen die
Wesenheit der Dinge und der Menschen und also auch ihre Mannigfaltigkeit
und finden ihre Einheit in derselben Wurzel wie die Natur.
Wir werden das Geschehen des neuen Werdens nur verstehen, wenn wir diese
Gegensätzlichkeit der konstitutiven Prinzipien vor Augen haben. Es
scheint uns dann ein Leichtes zu sein, den Weg neuen Kulturwerdens zu
finden.
Aus Deutsche Bauzeitung, 68. Jg., H. 47 (21. November 1934), S. 919-925
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