HÄRING - TEXTE


Vorschlag zu einer planmässigen besiedlung des bodenseeraums.

Die zerstörung der großstädte hat eine neue gegebenheit geschaffen, die uns auffordert, das problem einer ordnung der menschen in dem siedlungsraum mitteleuropa von grund auf neu zu überprüfen. Es geht hierbei vor allen dingen um die großstädte. Der bewegung zu einer akkumulation der massen, die ihr wachstum ins unermessliche treibt, ist entgegenzutreten. Die großstädte müssen deshalb von allem entlastet werden, was nicht durch eine funktion in der großstadt an diese gebunden ist. (Auf die gesamten umfangreichen fragen einer planmässigen lenkung der besiedlungstätigkeit kann hier nicht eingegangen werden.) An einem konkreten beispiel sei hier gezeigt, in welchem sinne einer forderung der entlastung der großsiedlungsräume entsprochen werden kann.
Das nordufer des bodensees, ein landschaftlich und klimatisch bevorzugtes gebiet in deutschland, hat in den vergangenen jahrzehnten bereits eine grosse anzahl geistiger arbeiter angezogen, die sich vielfach hier einen festen wohnsitz geschaffen haben. Die bevorzugten wohngebiete liegen sowohl östlich von friedrichshafen hinter lindau als auch westlich am untersee. Von friedrichshafen aus reiht sich nach osten hin wohnsiedlung an wohnsiedlung am see entlang. In hohem masse ist das ganze nordufer auch ein erholungsgebiet für städtische menschen. Die bevölkerungen der städte bis ulm, ja bis stuttgart fahren vielfach zum wochenende an den see. Der plan liegt also nahe, diese entwicklung zu fördern, das bodenseegebiet planmässig zu einer siedlung für geistige arbeiter zu machen und auf diese weise eine zentrale des geistigen lebens zu schaffen. Dieser plan fordert, dass dem geistigen arbeiter in diesem siedlungsraum alle jene einrichtungen geboten werden, die ihm unentbehrlich zur arbeit sind und die eben ein wesentliches moment seiner großstadtgebundenheit sind. Er muss sich am bodensee selbst über das geistige geschehen in der welt unterrichten können und dauernd über dieses geschehen unterrichtet werden. Es ist deshalb nötig, eine ausgedehnte informationsmöglichkeit zu schaffen. Es ist nötig, dass der geistige arbeiter laufend durch vorträge, ausstellungen aller art, konzerte und theater, filme und kongresse über die arbeit der ganzen welt bestens informiert wird. Diesem informationsdienst schliessen sich forschungs- und lehrinstitute an, die sich besonders mit der arbeit an wissenschaftlichen aufgaben befassen. Buchhandlungen, verlage, büchereien ergänzen den arbeitsapparat. Schulen für die kinder der geistigen arbeiter kommen hinzu. (In Salem ist bereits eine ausgezeichnete erziehungsanstalt vorhanden.) Der lebensbedarf der durch die geistigen arbeiter gegebenen gesellschaftsschicht, die bestimmte qualitätsansprüche stellt, macht verkaufstellen grosser häuser wünschenswert und möglich, häuser für wohnbedarf, kleidung usf., um nur das wesentliche zu nennen.
Das eigentliche siedlungsgebiet hat eine länge von rund 60 km und eine tiefe von 10-15 km.
Die vorliegenden pläne sehen eine art city für diese siedlung vor, für die der raum zwischen friedrichshafen und meersburg, etwa die gegend von markdorf, in aussicht genommen ist. Hier soll der kern der siedlung entstehen, in dem alle diejenigen einrichtungen zusammengezogen werden, die für den besonderen informationsdienst bestimmt sind und denen forschungs- und lehrinstitute angeschlossen werden.
Der verfasser dieses planes hat die absicht, mit einer privaten schule für gestaltung, deren grundstock eine abteilung für bauen bildet, den anfang zu machen und von ihr aus die übrigen einrichtungen aufzuziehen, die z.t. in enger verbindung mit dem unterrichtsbetrieb der schule stehen. (Der verfasser leitete bereits längere zeit in berlin eine international bekannte private kunstschule.)
Es wird eine aufgabe dieser schule sein, die traditionen des ehemaligen "deutschen werkbundes" wieder aufzunehmen und fortzuführen. Sie rechnet mit einer internationalen schülerschaft, wie sie bereits in berlin vorhanden war, und ist in ihrer grösse für den besuch von 5-700 schülern geplant. Die anlage der schule erfordert also sowohl eine wohnsiedlung für den lehr- und verwaltungskörper als auch studentenheime für die schüler. Sie bildet dadurch bereits selbst einen grundstock von rund 1000 Menschen. Die lehrkräfte werden sich aus führenden persönlichkeiten verschiedener gebiete der bildenden künste zusammensetzen.
Grossindustrielle anlagen müssten aus diesem gebiete ferngehalten werden. Die einzige denkbare ausnahme wäre eine mittelgrosse industrie in friedrichshafen. Die konzentrierung des geistigen lebens in dem siedlungsraum wird auch noch besondere ansprüche in verkehrstechnischer hinsicht nach sich ziehen.
Mit diesem plan soll zugleich ein gedanke gefördert werden, der in dem siedlungsraum des bodensees besonders nahe liegt. Das bezeichnete engere siedlungsgebiet am nordufer des bodensees ist der genaue mittelpunkt eines grösseren siedlungsraums, der sich in richtung von westen nach osten etwa von basel bis augsburg erstreckt, nordsüdlich vom schwäbischen jura bis nach zürich und bern. In seiner vergangenheit war dieser grössere raum ein geschlossenes kulturgebiet. Die spätere zerspaltung des ganzen kulturraums in vier politische gebiete hat die geistige einheit dieses kulturraums nicht zerstört, sie ist noch heute evident. Ihr gehören teile der schweiz an, teile des elsass, oberschwaben und teile österreichs. Die tatsache der geistigen einheit bezeugen internationale einrichtungen, die ohne rücksicht auf politische gebundenheit auf grund ihrer zugehörigkeit zum bodenseeraum entstanden sind. Die tatsache der wirtschaftlichen einheit wird aber vor allen dingen bezeugt durch die übernationale verständigung, die seit langem schon in allen technischen fragen erreicht wird, die die bewirtschaftung des bodensees und des oberrheins angehen und einen weitreichenden einfluss auf die nachbargebiete ausüben.
Der siedlungsraum ist durch eine einheit höheren ranges als ein lebensraum abgezeichnet, dessen lebenskraft und raumqualität über die politischen grenzen hinausreicht. So sind in diesem raum besondere voraussetzungen dafür gegeben, eine arbeit zu beginnen, die einem geistigen neuaufbau mitteleuropas dient.

[1946], Typoskript, HHA-01-676; gekürzt publ. in: Hugo Häring, werkraum oberschwaben, Oberschwaben-Heft 3, Leutkirch 1961, S. 19f